Die Tote von Buckingham Palace
Pitt hinüber, »schon als ziemlich beschränkt eingeschätzt, so wie ich Sie beide in den letzten Tagen erlebt habe.«
Narraway erbleichte vor Zorn, und seine Augen funkelten. »Sie haben völlig recht«, sagte er genüsslich. »Natürlich wird es wegen dieses Mordes keine Anklage geben. Ich habe ihn lediglich erwähnt, um Sie aus der Fassung zu bringen. Ich nehme an, dass Sie Ihre Tochter auf Ihre Weise geliebt haben. Verständlich, war sie doch ein weibliches Abbild Ihrer selbst, moralisch möglicherweise nicht ganz so verkommen, aber sie war ja auch jünger.« Sein Lächeln wurde etwas breiter. »Sie haben recht – all das müsste selbstverständlich bewiesen werden, und daher wird die Anklage auf ›Erpressungsversuch am Thronerben‹ lauten.«
Ungläubig fragte Dunkeld: »Erpressung? Eine solche Anklage wird er nie unterstützen, Sie Narr!«
Mit regloser Miene teilte ihm Narraway mit: »Mr Dunkeld, ich werde Sie wegen Hochverrats vor Gericht bringen. Es versteht sich von selbst, dass es im Interesse der Sicherheit des Landes keine öffentliche Verhandlung geben wird.«
Endlich begriff Dunkeld. Alles Blut wich aus seinem Gesicht. Er schwankte ein wenig, dann wandte er sich Pitt zu, als wolle er das Gleichgewicht wieder erlangen, und griff ihn mit beiden Fäusten an.
Dieser riss seinen Fuß ruckartig hoch und traf ihn zwischen den Beinen. Schrill aufkreischend, klappte Dunkeld nach vorn zusammen und schlug mit dem Kopf so heftig an den Türpfosten, dass er fast die Besinnung verloren hätte.
Verblüfft sah Narraway seinen Untergebenen an.
Pitt zuckte kaum wahrnehmbar die Schultern. Tiefe Befriedigung erfüllte ihn. Später mochte er sich dieses Gefühls schämen, aber im Augenblick genoss er es. »Es wäre sinnlos gewesen, gegen seine Fäuste anzugehen«, bemerkte er. »Da hätte ich den Kürzeren gezogen.«
Narraway schüttelte den Kopf. »Er hätte ohnehin nicht entkommen können.«
»Schon. Aber er hätte mich halb tot geprügelt, weil er nichts zu verlieren hatte, und ich denke, das war auch seine Absicht.«
Narraway seufzte. »So ein Schwachkopf«, sagte er betrübt. »Sie sollten ihn besser fesseln. Wir können es uns nicht leisten, diesem Berserker freie Hand zu lassen. Danach schließen Sie die Tür ab.«
»Ja, Sir.«
An der Tür wandte sich Narraway um. »Danke«, fügte er seiner Anweisung hinzu.
Die Gäste und die beiden Männer vom Staatsschutz versammelten sich in Anwesenheit des Kronprinzen im Salon. Er war zutiefst davon betroffen, dass das Projekt gescheitert war, aber mit der Festnahme Cahoon Dunkelds, der die treibende Kraft dahinter gewesen war, bestand keine Aussicht, es zum guten Ende zu führen. Seine tiefe Unzufriedenheit ließ den Thronfolger sogar seine ursprüngliche Verlegenheit vergessen. »Wenn jemand wütend ist, fühlt er sich grundsätzlich weniger unwohl, als wenn er sich schämen muss«, flüsterte Pitt Narraway zu.
Liliane Quase war sichtlich erleichtert, dass die Heimsuchung vorüber war. Ihre Augen leuchteten, und ihre ganze frühere Schönheit lag wieder auf ihren Zügen. Ihr Mann schien nüchtern zu sein und begriffen zu haben, dass auch von ihm das Gefühl genommen war, in Gefahr zu schweben.
Simnel Marquand litt so sehr unter Minnies Tod, dass er kein Wort herausbrachte. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob ihr Mann oder ihr Vater sie getötet hatte. Er war nach wie vor der einsame Gefangene seiner Gefühle, sodass Olga allein war wie eh und je.
Sorokine war in sich gekehrt. Er hatte so dicht davor gestanden, auf Lebenszeit zusammen mit Geistesgestörten eingesperrt zu werden, dass er sich davon nicht in wenigen Stunden hatte erholen können. Er hatte nah vor einem Abgrund gestanden und konnte das weder einfach abtun noch vergessen.
Auch Elsa war allein. Soweit sie wusste, hatte man ihren Mann wegen Mordes an seiner Tochter festgenommen. Zwar sah sie sich einer gesellschaftlich unmöglichen Situation gegenüber, deren Folgen sie nicht einmal ahnen konnte, doch der Mann, den sie liebte, war wieder frei, und die Freude darüber konnte ihr niemand nehmen. Sie leuchtete still in ihren Augen.
»Eine Tragödie!«, sagte der Kronprinz mit Nachdruck. »So ein dynamischer Mann hat sein großes Talent vergeudet, weil … weil …«
»Weil er zu machthungrig war«, ergänzte Simnel.
»Ja.« Der Prinz war über diese unverlangte Hilfestellung verärgert. Sicher hätte er selbst den treffenden Ausdruck gefunden, wenn man ihm Zeit gelassen hätte. »Jetzt
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