Die Tote von Buckingham Palace
nich’.«
»Wie hat sein Fuhrwerk ausgesehen?«
»Weiß ich nich’.«
»Vier Räder oder zwei?«, ließ Pitt nicht locker.
»Vier.«
»Und das Pferd?«
»Keine Ahnung. Hell. Vielleicht ’n Grauer.«
»Und haben Sie nach zehn Minuten den Salon wieder aufgesucht?«
»Musste ich doch.«
»Wo waren Sie in der Zwischenzeit?«
Edwards riss die Augen weit auf. »Se mein’, der hätt’s tun könn’?«
»Etwa nicht?«
Edwards schien zu zögern. »Ich weiß nich’ recht. Der war doch bloß fünf oder vielleicht zehn Minuten lang da, is’ nach unten und rausgegangen und nach ’ner Weile wieder reingekomm’. War da wirklich alles voll Blut?«
Bei der Erinnerung an den Anblick der bläulich schimmernden bleichen Eingeweide der Frau überlief Pitt unwillkürlich ein Schauder.
»Ja.«
»Dann weiß ich erst recht nich’, wie er das hätte machen sollen. An seinen Sachen war nix zu seh’n«, gab Edwards zurück. »Kein Dreck, und schon gar kein Blut.«
»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« Pitts Hoffnung begann zu schwinden.
»Ja, Sir. Fragen Se den Stiefelputzer, Rob, der kann’s Ihn’ bestätigen.«
»Wieso war der Junge überhaupt zu dieser nachtschlafenden Zeit auf?«
»Wahrscheinlich wollte der sich heimlich ’n Stück Kuchen aus der Küche hol’n. Der is’ dauernd am Essen.«
»Und Sie sagen, Mr Dunkeld hat Sie schon erwartet? Wo?«
»Auf ’m Treppenabsatz. Er hat gesagt, wir sollten die Kiste nich’ weiter nach oben schleppen, weil die Dam’n sons’ wach werden könnten. Da wär’n Bücher drin, die er dringend brauchte, und wir sollten se in ’n Salon da stellen. Er würd’ se dann rausnehm’, und wir könnt’n danach wiederkomm’ un’ die Kiste wieder wegbringen. Der Fuhrmann war überhaupt nich’ in dem Stockwerk, wo die Wäschekammer is’«, fügte er hinzu.
»Und Sie haben dann die Kiste geholt, und der Fuhrmann hat sie wieder mitgenommen?«
»Ja. Se war verdammt schwer. Vielleicht war das Teakholz oder so. Seh’n konnt ich das nich’, weil’s so dunkel war.«
»Und es war vor ein Uhr, nicht später?«
»Ja.«
»Danke. Sie können erst einmal gehen.«
Pitt sah sich genötigt, die Theorie vom Fuhrmann als Täter
fallen zu lassen. Erneut lautete die unausweichliche Schlussfolgerung, dass als Täter ausschließlich einer der Gäste des Kronprinzen infrage kam. Er fühlte sich von einer Enttäuschung niedergedrückt, für die es, wie er sehr wohl wusste, keinen Grund gab.
Er verließ seinen Arbeitsraum, um nach unten zu gehen. Gerade als er den nächsten Treppenabsatz erreichte, kam ihm Cahoon Dunkeld entgegen, der auf dem Weg nach oben war.
»Ah, guten Abend, Pitt«, sagte er munter. »Seine Königliche Hoheit möchte Sie sprechen.« Mit finsterer Miene fügte er hinzu: »Nehmen Sie doch um Gottes willen das ganze Zeug aus Ihrer Jackentasche, Mann, und sehen Sie zu, dass Ihre Krawatte gerade sitzt. Man könnte glauben, Sie hätten in Ihrem Hemd geschlafen! Hat Ihre Haushälterin kein Bügeleisen und kein Nähzeug?«
Es war Pitt durchaus bewusst, dass er unordentlich war, doch hatte ihn das bis dahin nicht weiter gestört. Aber die in den Worten des Mannes enthaltene Kränkung Charlottes traf ihn tief. So gern er ihm seine Grobheit mit gleicher Münze heimgezahlt hätte, wagte er das nicht zu tun. Hin und wieder, aber nie länger als eine oder zwei Stunden, vergaß er, dass er sich im Palast Königin Viktorias befand: er, der Sohn eines Wildhüters, der wegen angeblicher Wilderei in den Waldungen seines Gutsherrn nach Australien deportiert worden war. Nie wusste er, wem dieser Hintergrund bekannt war und wem nicht. Wenn er in einer Situation wie dieser Vergeltung übte, rechnete er immer mehr oder weniger mit einer herabsetzenden Erwiderung.
Zitternd vor kaum beherrschter Wut, leerte er die bewusste Tasche und verteilte ihren Inhalt möglichst gleichmäßig auf die anderen Taschen seines Anzugs, dann rückte er sich die Krawatte zurecht.
Dunkeld äußerte sich nicht dazu, aber sein gespielt verzweifelter Gesichtsausdruck sprach Bände. Achselzuckend führte er Pitt dorthin, wo ihn der Kronprinz erwartete, und folgte ihm zu Pitts großem Ärger in den Raum.
Pitt blieb abwartend stehen. So viel war ihm von der Hofetikette klar, dass er weder das Wort an den Prinzen richten noch
neugierig seinen Blick schweifen lassen durfte, um sich in der Betrachtung der üppig verzierten Decke oder der herrlichen Bilder zu verlieren, welche die Wände nahezu vollständig
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