Die Tote von Buckingham Palace
»Kein Mann will von Ihn’ was wissen – höchstens so einer, der’s mit kleinen Kindern hat.«
»Dann bin ich ja vor Edwards sicher, was?«, gab Gracie zurück. »Er mag eher die mit ’ner vollen Bluse, auch wenn die glattweg seine Mutter sein könnten.«
Ada hob die Hand, als wolle sie Gracie ohrfeigen, merkte dann aber, dass Prudence und Biddie herübersahen, und überlegte es sich einstweilen anders.
»Ich krieg Se schon noch, kleines Rab’naas«, sagte sie kaum hörbar.
»Von mir aus«, gab Gracie im selben Ton zurück. »Dann sag ich, was ich neulich in der Waschküche geseh’n hab, wie alles voll Dampf war. Da war ja wohl nich’ nur der Waschkessel zu heiß!«
»Alles Lüge!«, stieß Ada hervor. »Ihn’ glaubt sowieso keiner, denn niemand kann Se leiden! Ich sag dann einfach, dass Se Edwards schöne Augen gemacht ha’m, dann setzt Mrs Newsome Se garantiert vor die Tür. Se wartet nur auf’ne Gelegenheit.«
»Da lachen ja die Hühner«, höhnte Gracie. »Grade ha’m Se selbs’ gesagt, dass mich niemand leiden kann. Schließlich weiß jeder, dass Edwards hinter Ihn’ her is’. Und Sie ha’m ’n Auge auf Cuttridge geworfen. Der glaubt mir bestimmt. Jetzt halten Se besser ’n Mund und lassen mich zufrieden.«
Inzwischen hatten sie das Speisezimmer erreicht, und Ada musste schweigen, ob sie wollte oder nicht. Innerlich schäumte
sie, weil sie eine Niederlage eingesteckt hatte. Sie war entschlossen, das dem frechen Biest heimzuzahlen.
Livrierte Lakaien hielten die großen Flügeltüren auf, damit die Gäste eintreten konnten. Durch die offene Tür konnte Gracie, die mit den anderen Dienstmädchen im Vorraum warten musste, ziemlich viel sehen. Die mit Juwelen geschmückten Damen in Samt, Seide und Spitze sahen hinreißend aus. Der Anblick weißer Schultern und Ausschnitte blendete Gracie förmlich; so viel Haut hatte sie noch nicht einmal gesehen, wenn sie ein Bad nahm.
Mrs Sorokine trug wieder ein Kleid in einem aufreizenden Rosaton, so flammend, dass man glauben konnte, darauf lasse sich ein Topf zum Kochen bringen. Sie wirkte erregt und wandte sich mit blitzenden dunklen Augen von einem zum anderen, ohne auf ihren Mann zu achten. Abschätzig musterte sie die schmale Mrs Marquand in ihrem dunkelblauen Kleid, das sie noch knochiger erscheinen ließ, dann wanderte ihr Blick zu Mr Marquand, der ihn mit einem Lächeln erwiderte. Auch er sah ein wenig rosig aus, so als wärme er sich in der Glut ihres Kleides. Gracie überlegte, ob sich alle feinen Leute so benahmen oder nur diese. Vielleicht würde sie eines Tages den Mut aufbringen, Mr Pitt danach zu fragen.
Mrs Quases Kleid hatte einen sonderbar bräunlichen Goldton und einen tiefen Ausschnitt, was aber niemandem so recht aufzufallen schien. Sie war sehr schön.
Mrs Dunkeld kam in kühlem Lavendelgrau, das sonderbarerweise ihre Haut wärmer erscheinen ließ. Auch sie war auf damenhafte Weise schön. Sie machte einen unglücklichen Eindruck und schien jeden anzusehen, außer ihren Mann und Mr Sorokine.
Gracie bekam die Anweisung, sich im Weinkeller von Mr Tyndale zwei weitere Flaschen Weißwein geben zu lassen. Als sie zurückkehrte, war es fast Zeit, die Suppenteller abzutragen.
»Obacht!«, mahnte Ada, aus deren Augen die Vorfreude leuchtete. »Wenn nur einer von den’ ’nen Tropfen auf die Kleidung kriegt, sind Se erledigt.«
So betrat Gracie den Raum bereits zitternd und voller Furcht, über die eigenen Füße – oder, schlimmer noch, ihr zu langes Kleid – zu stolpern und alle Teller klirrend zu Boden fallen zu lassen.
Sie erfüllte ihre Aufgabe mit äußerster Konzentration im vollen Bewusstsein dessen, dass Ada nichts lieber wäre, als wenn ihr ein Missgeschick passierte. Dann half sie beim Auftragen des Fischgangs und trat an die Wand zurück, während die Gäste aßen. Es roch wunderbar. Sie hatte Gelegenheit, die Leute in aller Ruhe zu beobachten. Da man keine Kenntnis von ihrer Anwesenheit nahm, kam auch niemand auf den Gedanken, sie könne sie belauschen.
Zuerst richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf Cahoon Dunkeld. Ihn umgab eine Aura der Macht, die ihren Blick geradezu magisch anzog. Es war, als beherrsche er alle im Raum mit der Kraft seines Geistes und seines Willens. Er sprach über Afrika und die gewaltige Eisenbahnlinie, die sie zu bauen gedachten, schilderte, wie sie das Rückgrat des ganzen Kontinents bilden würde.
»Und sicher unterstützt dich Seine Königliche Hoheit, nicht wahr?«, sagte Mrs Sorokine mit
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