Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Mantel auf und warf ihn über eine Stuhllehne. Auf den fragenden Blick der Sekretärin sagte er nur: »Rufen Sie meine Frau an. Ich komme später zum Essen.«
10
MITTWOCH, 31. OKTOBER 1923
Als Leo am Vormittag den Dienstwagen in der Ackerstraße abstellte, erinnerte er sich an den Fall Arnold Wegner, den er im vergangenen Jahr aufgeklärt hatte. Der Maler war in seinem Atelier in den nahegelegenen Rehbergen ermordet worden.
Wie so oft fragte sich Leo, was aus den Beteiligten geworden sein mochte – aus der Witwe des Malers, die ein kleines Mädchen hatte adoptieren wollen, und vor allem aus dem Jungen Paul, der in trostlosen Verhältnissen gelebt hatte und von einem Gastwirt aus der Nachbarschaft als Pflegesohn angenommen worden war. Hier bestand wenigstens die Hoffnung, dass diese Menschen nach all den schrecklichen Ereignissen etwas Glück gefunden hatten.
Leo war schon einmal in Meyer’s Hof gewesen, doch die gewaltige Wohnanlage erstaunte ihn immer aufs Neue. Ein Vorderhaus und sechs Quergebäude, dazwischen Hinterhöfe mit Toilettenanlagen und Gewerbebetrieben. Aus einem ganz bestimmten Winkel blickte man durch alle Toreinfahrten auf eine große Uhr, die an der Wand des letzten Hauses angebracht war. Leo, der sich für Kunst interessierte, erinnerte das an die Komposition alter Gemälde, die den Blick durch Portale oder Torbögen auf antike Landschaften oder prächtige Säle freigaben. Damit hörte die Ähnlichkeit allerdings auf.
Über den Torbögen waren die Höfe durchnummeriert, an den Mauern drängten sich die Schilder der kleinen Läden und Werkstätten, es gab Handwerker, Händler, Kleinfabrikantenund sogar eine Badeanstalt. Vor dem Krieg hatten hier über zweitausend Menschen gelebt, jetzt waren es noch immer knappe tausend. Im Grunde war es eine Kleinstadt, in der es von barfüßigen Kindern wimmelte, die jetzt auf die Straße liefen und neugierig seinen Wagen musterten. In dieser Gegend waren Automobile eine Seltenheit.
»Reicher Mann, wa?«, fragte ein Knirps mit kurzgeschorenem Haar.
»Das nun nicht gerade.«
»Aber die schnieke Karosse, janz schön fein.«
Leo lachte und holte etwas Geld aus der Tasche. »Wo finde ich die Wohnung von Familie Bäumer?«
»Bäumers? Dritter Hof, zweeter Stock. Mutta is jestorben. Vatta is jetzt mit die Jören alleene.«
Leo gab ihm das Geld, das der Junge argwöhnisch beäugte, als zweifelte er dessen Wert an. Nicht ohne Grund, dachte Leo.
In den Höfen herrschte das übliche Gedränge, Kinder, Mütter, alte Leute mit Krücken, die sich mühsam mit Körben und Kiepen auf dem Rücken dahinschleppten. Ein beinloser Veteran in zerschlissener Uniform bot bunte Postkarten an, die keiner haben wollte.
Im dritten Hof warf Leo einen Blick auf den Stummen Portier und entdeckte tatsächlich den Namen Bäumer. Das war nicht unbedingt zu erwarten gewesen. Meist wurden die Schilder nur alle paar Jahre erneuert und wiesen auch Personen aus, die längst tot oder verzogen waren.
Der Gestank, der ihm im engen Treppenaufgang entgegenschlug, war atemberaubend, aber nicht ungewohnt. Als Polizist ermittelte er oft genug in derartigen Mietskasernen. Immerhin waren es die Gerüche lebender Menschen, die zog er denen im Leichenschauhaus allemal vor.
Im zweiten Stock erkundigte er sich bei einer Frau nach der Familie, worauf sie wortlos auf die letzte Tür rechts zeigte.
Leo klopfte. Zuerst rührte sich nichts, dann ertönten schwere Schritte. Etwas prallte von innen gegen die Tür. »Wer is da?«
»Kommissar Wechsler, Kriminalpolizei. Ich möchte nur kurz mit Ihnen sprechen.«
Schweigen.
Leo klopfte noch einmal.
»Ja, ick mach ja schon.« Ein untersetzter Mann in Unterhemd und Hosenträgern, der offenbar gerade aus dem Bett kam, öffnete die Tür. »Ick bin ’n ehrlicher Arbeiter, der jerade von der Schicht jekommen is. Und jetzt holen Se mich schon wieder raus.«
»Bedaure, Herr Bäumer, aber es ist wichtig. Darf ich eintreten?«
Der Mann wich widerwillig beiseite, führte ihn durch einen engen, dunklen Flur in die Küche und bot ihm einen wackligen Stuhl an. Alles war mit dem Notwendigsten eingerichtet. Von irgendwo ertönte Kindergeschrei.
»Ist es richtig, dass Ihre Frau vor einigen Monaten in Folge einer unsachgemäß ausgeführten Abtreibung verstorben ist?«, fragte Leo. Hier musste er nicht lange um den heißen Brei herumreden, der Mann wollte weiterschlafen.
»Det stimmt. Na und? Wolln Se ihr dafür bestrafen?«
»Natürlich nicht. Vor einigen
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