Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
ich herausfand, dass ich in Davos geboren bin. Der Ort erschien mir geheimnisvoll, mit seinem fremdartigen Namen musste er weit weg von Berlin liegen. Er stand auf einem Dokument, das der Schule vorgelegt wurde, und halb hoffte, halb fürchtete ich, etwas entdeckt zu haben, das mir eigentlich verborgen bleiben sollte. Ich stellte mir dieses Davos vor, malte es mir in Gedanken zunehmend phantastisch aus, als einsame Insel in der Südsee oder einen Ort inmitten des undurchdringlichen Dschungels. Damals glaubte ich mich meinen Schulkameraden überlegen, die aus Berlin oder Potsdam stammten und auf keine solch exotische Herkunft zurückblicken konnten.
Dann aber kam der Geographieunterricht auf dem Gymnasium, und ich wurde eines Besseren belehrt. Gewiss, die Schweiz war ein fremdes Land, aber bei weitem nicht so ausgefallen wie Afrika oder Polynesien. Natürlich wunderte ich mich immer noch, welcher Tatsache ich diesen Geburtsort verdankte, und fand mich nun alt genug, um meine Eltern darauf anzusprechen.
Meine Mutter sah mich verwundert an, als sie meine zaghafte Frage hörte, und lachte dann. »Dafür gibt es einen einfachen Grund, Adrian. Als ich dich erwartete, wurde ich ziemlich krank. Niemand konnte feststellen, woran ich litt, aber ich wurde von Tag zu Tag schwächer, und man fürchtete um dein und mein Leben. Der
Arzt empfahl mir einen längeren Aufenthalt in den Bergen.« Da mein Vater im Geschäft nicht abkömmlich war, hatte Tante Jette meine Mutter nach Davos begleitet, wo sie sich im Sommer 1901 mehrere Monate aufhielten. Als sich meine Mutter zunehmend erholte, man ihr die weite Reise im fortgeschrittenen Zustand der Schwangerschaft jedoch nicht zumuten wollte, entschieden meine Eltern, die Geburt solle im dortigen Sanatorium stattfinden.
Wenngleich die Schweiz nicht gar so exotisch ist,
hat mich diese Geschichte immer fasziniert – die beiden Schwestern beim Spaziergang vor dem gewaltigen Alpenpanorama oder auf der Terrasse eines Cafés mit Blick auf die Berge. Sie habe in Davos glückliche Wochen mit Jette verlebt, erzählte mir meine Mutter.
Leider gibt es keine Photographien von diesem
Aufenthalt, nur eine Ansichtskarte, die Mutter in einem Album aufbewahrt. Sie zeigt einen Spazierweg mit Blick auf den Ort und ist mit ›Blick auf Davos‹ betitelt. Als Junge habe ich mir die Karte oft angeschaut und im Geiste meine Mutter und Tante Jette dort entlangschlendern sehen, Arm in Arm, die Köpfe einander zugeneigt, voller Vorfreude auf das Kind. Meine Mutter strich mir dann über den Kopf und sagte, es sei eine wunderbare Zeit gewesen.
Leo hatte lange überlegt, ob er Ilse von seinem Gespräch mit Magda Schott und ihrer Suche nach einer Hilfe in der Praxis erzählen sollte. Clara gegenüber hatte er nichts erwähnt, weil sein Besuch bei ihr eine so sonderbare Wendung genommen hatte, und Robert hatte ihm auch nicht weitergeholfen. Leo bezweifelte, ob Ilse wirklich den ersten Schritt tun würde.
Als er nach Hause kam und die Aktentasche im Flur abstellte,war es seltsam still in der Wohnung. Keine Marie, die ihm fröhlich entgegenlief, keine Geräusche aus der Küche. Verwundert öffnete Leo die Tür des Kinderzimmers. Georg saß am Schreibtisch, den Kopf in die Hand gestützt, den Füllfederhalter in der anderen. Als er seinen Vater eintreten hörte, zuckte er zusammen.
»Hallo, Vati, ich …«
»Hast du geschlafen?«, fragte Leo und trat näher. In Georgs Rechenheft war eine leere Seite aufgeschlagen.
»Du hast noch gar nichts geschrieben?«
Sein Sohn schüttelte den Kopf. »Ich war so müde.«
Leo legte ihm die Finger unters Kinn und hob seinen Kopf behutsam an. »Was ist los?« Er zog sich einen Stuhl heran. »Erzähl mal.«
Georg schluckte. »Der Hans ist tot.«
»Hans?«
»Ja, der Hans Willumeit aus der Bremer Straße. Wir haben immer zusammen draußen gespielt.«
Leo erinnerte sich an den Jungen, ein schmaler Kerl mit Segelohren, der von allen am schnellsten rennen konnte. »Was ist passiert?«, fragte er sanft.
Georg zuckte mit den Schultern. »Er war ein paar Tage nicht in der Schule. In letzter Zeit war er oft krank, beim Wettlauf hat er immer verloren, ganz anders als früher. Und dünn war er geworden. Der Lehrer hat was von Auszehrung gesagt.«
Wer redet denn heutzutage noch von »Auszehrung«, lag es Leo auf der Zunge, doch er schwieg. Das Wort mochte veraltet sein, der Zustand war leider nur zu verbreitet. Er musste wieder an die Broschüre über die ›Not in
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