Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Berlin‹ denken, die er Robert gezeigt hatte.
»Das ist schlimm.« Er legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Warst du schon bei seinen Eltern?«
Georg nickte. »Bin nach der Schule hingegangen.« Er zogdie Schultern hoch, als wollte er sich verstecken. »Der … der Sarg stand noch da, und Hans lag drin.« Er wandte sich ab.
Als Leos Frau Dorothea starb, war sein Sohn zu jung gewesen, um das Geschehen wirklich zu erfassen, doch nun konnte er begreifen, was Sterben bedeutete.
»Der Hans sah ganz fremd aus, blass, und die Nase war ganz spitz, als wäre sie länger geworden. Und er hatte so ein komisches weißes Hemd an.«
Leo zog Georg an sich. Der Junge leistete keinen Widerstand und ließ sich gegen seinen Vater sinken. »Warum muss das so sein?«
»Was meinst du?«
»Na, alles. Mit dem Geld und dem Hunger und den vielen Eltern, die keine Arbeit haben.«
Leo seufzte innerlich. Wie sollte er einem Kind die Ungerechtigkeit der Welt erklären, die er selbst nicht verstand?
»Das weiß ich auch nicht«, antwortete er aufrichtig. »Viele Leute machen Fehler, und wenn Politiker Fehler begehen, kommt so etwas dabei heraus. Wir können nur hoffen, dass sie aus den Fehlern lernen und es demnächst besser machen.« Dann erinnerte er sich, wie still die Wohnung vorhin gewesen war. »Wo sind eigentlich Tante Ilse und Marie?«
Georg zog die Nase hoch. »Tante Ilse wollte Schrippen kaufen, bei Kellermann in der Beusselstraße. Marie ist mitgegangen.«
»Ach so.« Er überlegte. »Komm, wir decken schon mal den Tisch. Die Rechenaufgaben kannst du nach dem Essen machen. Vielleicht fallen sie dir dann leichter.«
Georg folgte ihm in die Küche und holte Teller und Besteck aus dem Schrank. Leo fand Kräutertee und stellte den Wasserkessel auf den Herd, wobei er Georg unauffällig beobachtete. Was sollte er seinem Sohn sagen? Er konnte ihm nicht erklären, weshalb die Welt so war, wie sie war, und schon gar nicht, weshalb es ihm selbst noch halbwegs gut ging, währendmanche Klassenkameraden nicht genug zu essen hatten. Andererseits wollte er nicht, dass Georg mit der Überzeugung aufwuchs, dass es keine Gerechtigkeit im Leben gab. Dann riss ihn die Stimme seines Sohnes aus seinen Grübeleien.
»Die Eltern vom Hans müssen noch Geld ans Krankenhaus bezahlen. Stell dir vor, er ist tot, und sie müssen trotzdem dafür bezahlen.«
»Ich dachte, er sei zu Hause gestorben«, sagte Leo und holte die Teekanne aus dem Schrank.
Georg wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. Normalerweise hätte Leo ihn ermahnt, schwieg nun aber.
»Ist er auch. Aber er war vorher im Luisenkrankenhaus, die konnten ihm wohl nicht helfen.«
Leo runzelte die Stirn. Er nahm sich vor, nach dem Essen noch einen Kondolenzbesuch bei Willumeits zu machen.
In der Bäckerei standen die Leute bis vor die Tür, allmählich machte sich Unmut breit. Gewöhnlich musste man selbst in diesen schweren Tagen nicht so lange warten.
Ilse und Marie Wechsler warteten auch, und das kleine Mädchen vertrieb sich die Zeit damit, durch die Pfützen zu springen. Ihre Tante war in Gedanken und achtete gar nicht auf sie, was Marie fröhlich ausnutzte.
»Clara war schon lange nicht mehr da«, sagte sie, als sie mit patschnassen Schuhen wieder neben ihrer Tante auftauchte.
Ilse zuckte zusammen und nickte dann. »Vielleicht hat sie viel in der Bücherei zu tun«, murmelte sie.
Marie hatte recht, Clara war seit mehreren Tagen nicht bei ihnen gewesen. Als sie am Sonntag von ihrem Spaziergang zurückgekommen war, hatte Leo allein im Wohnzimmer über seinen Büchern gesessen, obwohl er eigentlich Clara erwartet hatte. Ilse hütete sich, ihn darauf anzusprechen; es gab Themen, die sie beide sorgsam umschifften.
Allmählich rückten sie bis in den Laden vor. Viele Leute hatten Taschen und Beutel dabei, die bis zum Rand mit Geldscheinen gefüllt waren – der Lohn eines einzigen Tages. Was man dafür kaufen konnte, reichte nur bis zum nächsten Morgen.
»Der Georg war eben traurig«, sagte Marie. »Ich weiß aber nicht, warum. Ich habe ihn gefragt, aber er wollte nicht mit mir reden.«
»Vielleicht gab es Streit in der Schule. Oder er hat eine schlechte Note bekommen.« Das kam selten vor, Georg Wechsler war einer der besten Schüler seiner Klasse.
»Glaub ich nicht«, sagte Marie und spähte an der Warteschlange vorbei zur Theke. »Herr Kellermann ist allein im Laden«, sagte sie.
Ilse reckte den Hals. Tatsächlich stand der Bäckermeister mit hochrotem
Weitere Kostenlose Bücher