Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
»Keinen Gott?«
»Nein. Vielleicht haben wir ja Gelegenheit, den Doktor danach zu fragen.«
Leo bezweifelte, dass ihnen genügend Zeit für eine Diskussion über die Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen bleiben würde. Dr. Dahlke musste allerdings sehr daran gelegen sein, den Buddhismus zu verbreiten, wenn er in Berlin einen Tempel errichtete.
»Wir sollten unser Anliegen darüber nicht aus den Augen verlieren«, sagte Leo, klang aber weniger streng als seine Worte.
»Natürlich, Herr Kommissar.«
Sie hielten vor dem weitläufigen Grundstück. Arbeiter liefen geschäftig umher, Steine und anderes Baumaterial waren aufgestapelt, unter einer Plane war eine steinerne Buddha-Statue zu erkennen. Ein älterer Herr mit Hut und Spitzbart kam ihnen mit einem Regenschirm entgegen.
»Dahlke.« Er reichte ihnen die Hand und deutete auf das Grundstück hinter sich. »Und hier entsteht unser Haus.«
Leo stellte sich und Sonnenschein vor. Der Arzt führte sie durch ein improvisiertes Eingangstor und klappte den Schirm ein, als er bemerkte, dass der Regen aufgehört hatte.
»Hier wird eine lange Treppe entstehen, die zum Hauptgebäude dort oben führt.« Er deutete auf eine Baustelle, wo weitläufige Mauern aus der Erde wuchsen. »Außerdem planen wir einen Tempel, eine Meditationsklause und weitere Gebäude. Wir möchten europäischen Buddhisten eine Heimstättegeben. Die Reisen nach Asien sind mit großen Strapazen verbunden, die man nicht jedem Schüler zumuten kann, vor allem nicht im Alter.«
Leo und Sonnenschein sahen sich interessiert um.
Als sie unter einem Baum mit ausladender Krone standen, unter dem man im Sommer sicher herrlich sitzen konnte, schaute Dahlke sie aufmerksam an. »Meine Herren, so gern ich Ihnen mehr über mein Vorhaben erzählen würde – Sie sind gewiss nicht deswegen gekommen. Am Telefon haben Sie nur gesagt, es ginge um eine Bekannte?«
Die Nachricht von Henriette Strauss’ Tod und dem Mordverdacht schockierte ihn sichtlich. »Aber wie …?«
»Ich kann Ihnen leider keine nähere Auskunft geben.«
»Ich kann es nicht glauben. Sie ist – sie war ein Mensch, der immer nach dem Guten gesucht hat, in sich und in anderen. In allem, was sie tat, war sie bestrebt, dem Edlen Achtfachen Pfad zu folgen.«
Er bemerkte den fragenden Blick der beiden Kriminalbeamten. »Verzeihung, Sie sind nicht mit unseren Grundsätzen vertraut. Der Edle Achtfache Pfad bezeichnet die wichtigsten Elemente unserer Lehre: die rechte Sicht, das rechte Denken, die rechte Sprache, das rechte Handeln, die rechte Lebensweise, die rechte Hingabe, die rechte Achtsamkeit und die rechte Versenkung. Aber ich möchte nicht ablenken.«
Leo hätte gern mehr darüber erfahren, fragte aber nur: »Woher kannten Sie die Verstorbene?«
Dahlke lächelte wehmütig. »Es klingt seltsam, wenn Sie so von ihr sprechen. Wir haben uns hier in Berlin kennengelernt. Ich hielt einen Vortrag über den ceylonesischen Buddhismus, und Henriette kam danach zu mir und stellte kluge Fragen. Gesehen haben wir uns selten, aber häufig korrespondiert.« Er ließ seinen Blick über das Grundstück schweifen und seufzte. »Ich hatte gehofft, sie bei der Eröffnung hier begrüßen zu können.«
»Was wissen Sie über ihre persönlichen Verhältnisse? Gab es Menschen, mit denen sie Schwierigkeiten hatte oder die ihr feindlich gesinnt waren? Privat oder beruflich?«
Der Arzt lächelte milde. »Über solche Dinge haben wir uns nicht ausgetauscht. Meist ging es um geistige Fragen.«
Leo zog den Brief, den Sonnenschein in Henriettes Unterlagen gefunden hatte, aus der Manteltasche, strich ihn glatt und reichte ihn Dahlke. »Und das hier?«
Er las ihn. »Ach so, das hatte ich ganz vergessen. Ja, das klingt geheimnisvoll, in der Tat.«
»Worum ging es in Henriettes Brief?«, fragte Leo eindringlich. »Haben Sie ihn aufbewahrt?«
»Leider nicht.« Er warf einen Blick auf das Blatt in seiner Hand. »Wie Sie sehen, konnte ich ihr keinen Rat geben, da sie nur Andeutungen machte. Von einer Schuld, die sie auf sich geladen habe, von einer Entscheidung, die sie nun zu treffen habe, von Menschen, die dadurch verletzt werden könnten.«
»Und sie erwähnte nicht, um wen oder was es dabei ging?«
Dahlke schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wollte weder Namen nennen noch ihre Verbindung zu den fraglichen Personen näher erklären. Ihre Frage lautete in etwa so: Wenn ein Mensch eine Entscheidung getroffen und damit Schuld auf sich geladen habe, die
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