Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
er zwar wiedergutmachen könne, damit aber wiederum anderen Leid zufügen werde, wie solle derjenige handeln? Sie sehen, es war alles sehr vage. Ich habe versucht, es aus meinem Empfinden als Buddhist zu erklären. Anders als im Christentum denken wir nicht in Kategorien wie Schuld und Sünde. Der Buddhismus hält mehr von Herzensgüte.«
Leo nickte und deutete auf den letzten Absatz.
Und vergessen Sie nicht – bisweilen kann die Unwahrheit gnädiger sein als die Wahrheit, die Güte kostbarer als Aufrichtigkeit um jeden Preis.
Der Arzt nickte. »Damit wollte ich ihr, ohne die Hintergründe zu kennen, einfach sagen, dass eine Lüge, die schon lange besteht, den Menschen möglicherweise weniger schadet als das plötzliche Aufdecken der Wahrheit. Aber das ist ein solcher Allgemeinplatz, dass ich mich beinahe dafür schäme. Außerdem ist die Wahrheit ein hohes Gut, das man nicht leichtfertig aufgeben sollte.« Er zuckte mit den Schultern. »Was hätte ich ihr sonst schreiben sollen?«
Sonnenschein räusperte sich, worauf Leo ihm auffordernd zunickte.
»Herr Dr. Dahlke, der Neffe der Verstorbenen hat ausgesagt, dass sie unmittelbar vor ihrem Tod etwas geäußert habe, das wie ›Paternoster‹ klang. Können Sie sich vorstellen, dass sie in dieser ausweglosen Lage gebetet hat?«
Dahlke sah ihn überrascht an und schien seine Antwort gründlich zu erwägen. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Henriette war eine zutiefst moralische Frau, aber keinesfalls gläubig, jedenfalls nicht im christlichen Sinn. Dass sie das Vaterunser gebetet haben soll, halte ich für äußerst unwahrscheinlich.«
»Wir danken Ihnen, Herr Dr. Dahlke«, sagte Leo. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen, das zur Aufklärung des Falles beitragen kann, melden Sie sich bitte bei mir.« Er reichte dem Arzt seine Visitenkarte.
»Ich werde Henriette in meine Gedanken einschließen«, sagte der Arzt mit belegter Stimme. »Ich hoffe, sie war mit sich im Reinen, als sie starb.«
Als sich Leo und Sonnenschein zum Gehen wandten, rief er ihnen nach: »Ich würde mich freuen, Sie bei der Einweihung unseres Tempels begrüßen zu dürfen!«
13
»Das kann doch nicht wahr sein!«, rief Leo und klappte die Mappe ungehalten zu. »Wir warten dringend auf den Bericht, und dann zählt der Professor erst einmal auf, welche Gifte es
nicht
sein können.«
Sie hatten große Hoffnung in Heffters Bericht gesetzt, der nun zwar überraschend schnell eingetroffen war, ihnen aber keine eindeutigen Hinweise lieferte.
Natürlich gebe es Atemgifte, die die Lunge schädigten, schrieb Heffter, darunter Kohlenmonoxid, Blausäure und verschiedene Alkohole. Die bei der Sektion festgestellten Tatbestände passten jedoch nicht zur Wirkungsweise dieser Substanzen.
Außerdem sei zu bedenken, dass nur die Tote selbst Schaden genommen habe, bei den Personen, die sich während ihrer Erkrankung in der Wohnung aufgehalten hätten, jedoch keine Beschwerden aufgetreten seien. Dies weise entweder auf ein sehr flüchtiges Gift oder aber eine Substanz hin, die direkt inhaliert werden müsse.
»Heffter schreibt aber auch, dass sein Bericht nur vorläufig ist«, gab Robert Walther zu bedenken. »Immerhin hat er mehrere Studenten an die Recherchen gesetzt.«
»Du hast recht. Aber es stört mich, dass wir immer noch im Trüben fischen. Wenn wir die Methode kennen, erfahren wir vermutlich etwas über den Täter. Doch wenn nicht einmal Fachleute wissen, um welches Gift es sich handeln könnte … Wir sollten nicht einfach abwarten, bis er mehr für uns hat. Sonnenschein, Sie fahren noch einmal ins Krankenhaus undsprechen mit Gertrud Pollack, der Krankenschwester. Deuten Sie ruhig an, dass wir von möglichen Versuchen an Menschen wissen. Ich erkundige mich auf der Kinderstation nach der früheren Patientin Franziska Müller, und dann gehen wir zu Liesegang, dem Direktor. Robert, du setzt dich bitte mit Familie Lehnhardt in Verbindung und zeigst ihnen den Brief an Dr. Dahlke. Vielleicht haben sie eine Ahnung, unter welchem Gewissenskonflikt Henriette Strauss gelitten hat.«
Zu Walthers Überraschung war Rosa Lehnhardt an diesem Tag nicht nur sehr gefasst, sondern geradezu lebhaft. Er hatte von Leo gehört, dass sie bei der ersten Befragung völlig erstarrt gewirkt hatte, doch nun trat sie ihm sehr energisch gegenüber.
»Herr Kommissar, ich wüsste gern, wann ich meine Schwester endlich in Würde bestatten kann«, sagte sie und schaute ihn herausfordernd an, nachdem sie
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