Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Anblick von Toten gewöhnt, doch Kinderleichen machten ihm noch immer zu schaffen.
Frau Willumeit wollte ihm einen Platz anbieten, er lehnte aber dankend ab. »Ich will Sie nicht länger als nötig in Ihrer Trauer belästigen. Nur etwas fragen möchte ich Sie.«
»Ja?«
»Mein Sohn hat erwähnt, dass Hans im Krankenhaus behandelt wurde. Ist das richtig?«
»Da konnten sie ihm auch nicht helfen«, stieß Willumeit hervor. »Wozu sind die großen Herren im weißen Kittel da, wenn sie einem Kind nicht helfen können?«
»Sei doch ruhig«, sagte seine Frau und schluckte schwer. »Sie haben sich bemüht, aber es war zu spät.«
»In welchem Krankenhaus ist er denn gewesen?«
In diesem Augenblick stahl sich ein kleines Mädchen um die Ecke und schaute mit großen Augen auf den Sarg. Ihre Mutter ging zu ihr und schob sie sanft aus dem Zimmer.
»Er war im Luisenkrankenhaus.«
Leo räusperte sich. »Ich wüsste gern, ob Ihnen dort irgendetwas aufgefallen ist. Hat man eine Behandlung ausprobiert, die Ihnen ungewöhnlich vorkam? Oder mussten Sie etwas unterschreiben, um einer Behandlung zuzustimmen?«
Die Willumeits sahen ihn an. »Was sollen die Fragen?«, knurrte der Mann. »Wir haben gerade unseren Jungen verloren, und da kommen Sie daher und wollen solchen Unsinn wissen.«
»Sie haben ihn nur untersucht und gesagt, dass sie nichts mehr für ihn tun können.« Die Stimme seiner Frau zitterte. »Unterschreiben mussten wir nichts.«
Leo wandte sich zur Tür. »Ich danke Ihnen. Noch einmal mein tief empfundenes Beileid.«
»Einen Augenblick«, sagte nun Herr Willumeit. »Erinnerst du dich an die Sache, von der die Trude Müller erzählt hat? Mit dem Hautausschlag?«
Leo hielt inne.
»Ja, du hast recht.« Frau Willumeit putzte sich die Nase und holte tief Luft. »Also, die Trude Müller aus dem dritten Stock im Vorderhaus hatte letztes Jahr ihre Kleine in dem Krankenhaus. Wegen Mumps, glaube ich. Als das Mädchen nach Hause kam, hatte es wunde Stellen am Rücken. Die konnte Trude sich nicht erklären. Sie hat die Kleine gefragt, woher das käme. Das Mädchen hat gesagt, die Ärzte hättensie in den Rücken gepiekt und etwas auf die Haut gepinselt. Danach hätte es wehgetan. Die Mutter ist damit zum Hausarzt gegangen, und der hat gesagt, es wäre ein Hautpilz. Nichts Schlimmes.«
»Aber schmerzhaft?«
»Ja, es hat ihr wochenlang wehgetan. Sie musste immer wieder Salbe drauftun, bis es irgendwann weggegangen ist.«
Leo notierte sich Namen und Adresse. »Sie haben mir sehr geholfen.« Dann gab er beiden die Hand und verließ die dunkle Wohnung.
12
DONNERSTAG, 1. NOVEMBER 1923
Clara Bleibtreu ließ die Leihbücherei an diesem Morgen geschlossen. Seit dem letzten Gespräch mit Leo hatte sie keine Ruhe mehr gefunden, weder für die Arbeit noch für irgendeine andere Tätigkeit. Sie hatte keine Lust auszugehen, konnte ihre Gedanken nicht auf ein Buch richten und wusste nichts Rechtes mit sich anzufangen. All die Dinge, die sie an ihrem unabhängigen Leben so schätzte, machten ihr plötzlich keine Freude mehr.
Natürlich durchschaute sie sich. Seit Wochen hielt sie angeregt Zwiesprache mit sich selbst, wog das Für und Wider einer Ehe mit Leo ab und neigte bald zu der einen, dann wieder zur anderen Seite. Das grenzte schon an Verrücktheit. Warum war sie so unentschlossen, während es ihr damals gar nicht schwergefallen war, sich von Ulrich zu trennen? Und das, obwohl sie damit ihre gesellschaftliche Stellung und die Achtung ihrer Familie aufs Spiel gesetzt hatte?
Die Antwort war einfach: weil sie damals gelitten hatte, und das tat sie jetzt nicht. Sie lebte angenehm, es mangelte ihr an nichts, niemand fügte ihr Leid zu. Es schien ganz einfach. Kein Leo – keine Gefahr, verletzt zu werden. Keine Gefahr, sich zu verlieren.
Aber Leo war nicht Ulrich.
Clara ärgerte sich über sich selbst. Sie hatte das letzte Jahr so genossen, die unbeschwerten Tage auf Hiddensee, jede Minute, die sie mit Leo und den Kindern verbrachte. Auf einmalwar alles anders. Und nur, weil er von Heirat gesprochen hatte? Das war beinahe lächerlich.
Clara beschloss, nach draußen zu gehen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Sie zog Mantel und Hut an und verließ die Wohnung. Auf der Treppe blieb sie plötzlich stehen, weil ihr ein Gedanke gekommen war. Henriette Strauss, es hatte mit ihr zu tun. Seit sie von dem Tod der Ärztin erfahren hatte, dachte Clara oft an sie, an ihre Unabhängigkeit, ihr lebendiges Wesen. Wie vertraut
Weitere Kostenlose Bücher