Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
zusammengearbeitet.«
Widerwillig ließ ihn Leo gehen.
In den Jahren, die Tante Jette auf Reisen verbrachte,
schrieb sie mir dann und wann Postkarten mit exotischen Bildern oder Briefe, denen sie gepresste Blumen, kleine Perlen oder bunte Schnüre und andere Andenken aus exotischen Ländern beigefügt hatte. Sie rückte in die Ferne, so sehr ich mich auch über diese Sendungen freute, und wurde mir als Mensch fremd.
Ich war ein ernster Junge, der viel Zeit mit seiner
Geige verbrachte, mehr als meinen Eltern lieb war. Mein Vater brauchte lange, um sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sein einziger Sohn – sein einziges Kind – später nicht die Firma übernehmen würde. Es gab damals so manches bittere Wort zwischen uns. Mutter hingegen stärkte mir immer den Rücken, auch wenn sie ungern zwischen mir und Vater stand.
Als Tante Jette heimkehrte, war ich dreizehn. Ihren
Blick, als sie zum ersten Mal in unser Haus kam und mich als Heranwachsenden sah, werde ich nie vergessen. Ungläubigkeit, dann ein verwundertes Staunen, dann ein Lächeln, das mir das Herz wärmte. Das Gefühl der Fremdheit war sofort verschwunden, und wir umarmten uns, wobei ich feststellte, dass ich fast so groß geworden war wie sie.
Ich spielte Bachs Air auf der G-Saite , und sie lauschte
hingerissen, als wäre sie allein mit mir im Zimmer. »Du musst Musiker werden«, verkündete sie danach. »Ich
will später auf Konzertplakate zeigen und sagen: ›Das
ist mein Neffe, ein großer Künstler.‹«
Einmal besuchte sie mich beim Unterricht, setzte sich
still in eine Ecke und hörte zu, wie ich wieder und wieder dieselbe Passage spielte. Es war mir unangenehm, dass mein Lehrer mich das Stück so oft wiederholen ließ, doch Tante Jette fand das gar nicht schlimm. »Manche Dinge lernt man intuitiv, andere nur durch Fleiß. Talent ohne Fleiß ist nichts wert.«
Seltsam, aber seitdem sie das gesagt hatte, fiel mir das
Üben gar nicht mehr schwer. Ich werde niemals aufhören, bei meinen Konzerten im Publikum nach ihr zu suchen.
Adrian legte den Stift beiseite und schaute unzufrieden auf das, was er soeben geschrieben hatte. Obwohl alles der Wahrheit entsprach, kam es ihm nicht aufrichtig vor. Es spiegelte seine Gefühle nicht wider. Als ihm der Polizist vorhin den Brief gezeigt hatte, war es wie ein Schlag gewesen. Er hatte nicht damit gerechnet, diese Zeilen noch einmal zu lesen, hatte sie über dem Entsetzen der letzten Tage fast vergessen. Doch Tante Jette hatte sie aufgehoben, also hatten sie ihr etwas bedeutet. Adrian vergrub das Gesicht in den Händen und weinte.
Als Leo an diesem Abend um die Ecke in die Emdener Straße bog, wartete Clara vor der Haustür auf ihn. Sie hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, ihre Nase war rot vor Kälte.
Er blieb abrupt stehen. »Was machst du denn hier draußen?«
»Auf dich warten.«
»Das sehe ich. Warum hier unten?«
»Mir war nicht nach Plaudern zumute.«
Er schaute die Straße entlang. »Kommst du nicht mit rauf?«
»Nicht heute.«
»Lass uns ein Stück gehen.«
Er hakte sie unter, und sie gingen schweigend los. Leo überlegte, ob er anfangen sollte, aber nein, diesmal war Clara an der Reihe. Er spürte ihre Unsicherheit. Was wollte sie ihm sagen? Seine Kehle zog sich zusammen. Auf einmal hatte er furchtbare Angst, sie zu verlieren.
Jeder Schritt hallte auf dem Pflaster, es waren kaum noch Leute unterwegs. Bei diesem Wetter wollten alle ins Warme. Hinter den erleuchteten Fenstern wurde gekocht, geliebt, gestritten, was Menschen nach Feierabend eben so taten.
»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Nein, mehr als das, ich wollte dich nicht verletzen. Niemals. Aber das habe ich getan. Sag nichts, ich weiß, dass es so ist.«
Er nickte.
»Ich kann nur versuchen, es zu erklären.«
Er zog sie in den hellen Lichtkegel einer Straßenlaterne, legte die Hände um ihr Gesicht und sah ihr in die Augen. »Das hast du schon getan. Ich kenne deine Angst. Nehmen kann ich sie dir nicht,
du
musst sie überwinden. Wenn du das nicht kannst …«
Seine Worte verklangen.
Clara schloss die Augen, als müsste sie Kraft sammeln. »Ich vertraue dir. Lass mich nur sein, wie ich bin. Lass mich tun, was mir wichtig ist. Dann werde ich immer bei dir bleiben.«
»Du wirst die Bücherei behalten, egal wie. Ich lasse nicht zu, dass du sie aufgeben musst.«
Sie neigte ganz langsam den Kopf nach vorn, bis ihre Stirn seine Brust berührte.
14
FREITAG, 2. NOVEMBER 1923
»Du
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