Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Sie wollte gleich zu Leo nach Hause gehen, konnte sich aber nicht entscheiden, wie sie sich Ilse gegenüber verhalten sollte. Wusste Leo von Ilses Arbeit in der Bäckerei? Wohl nicht, sonst hätte er davon erzählt.
Clara schob einen schweren Karton mit aussortiertenBüchern in die Ecke, eine Spende für ein Kinderheim. Die Beusselstraße wirkte ungewöhnlich ruhig und dunkel, und die Leihbücherei kam ihr vor wie eine Insel des Lichts. Eigentlich mochte sie bei diesem unfreundlichen Wetter gar nicht hinausgehen. Sie wollte gerade ihren Mantel holen, als die Türglocke klingelte.
Sie drehte sich um und hielt abrupt inne.
»Guten Tag, Clara.« Ilse Wechsler stand an der Tür. »Darf ich hereinkommen?«
»Natürlich.« Leos Schwester war noch nie bei ihr im Laden gewesen. »Setz dich doch bitte.« Clara räumte einen Stuhl frei und schob ihn ihr hin.
»Ich habe dich vorgestern in der Bäckerei gesehen«, sagte Ilse. »Du bist wieder gegangen.«
»Ja. Ich war so überrascht.«
Ilse nickte. »Das kann ich gut verstehen. Es war … Ich habe mich ganz plötzlich entschieden. Na ja, nachgedacht habe ich schon länger darüber, aber als ich hörte, dass Herr Kellermann jemanden braucht …« Sie verstummte und sah zu Boden. »Es wird Zeit.«
»Wie meinst du das?« Clara ahnte, worum es ging, wollte es aber von Ilse selbst hören.
»Wenn ihr beiden … Ich brauche Arbeit, damit ich für mich sorgen kann«, sagte Ilse schlicht. »Wenn ihr zusammenzieht, muss ich mir eine Wohnung suchen.«
»Noch ist es nicht so weit.«
»Aber es wird kommen. Sollte es jedenfalls. Oder ist etwas passiert?«, fragte Ilse.
»Nein.« Clara dachte an ihre Zweifel und die Versöhnung mit Leo. »Es ist nicht so einfach für mich. Ich – ich muss den Kindern eine Mutter werden. Solange ich euch nur besuche, ist das etwas anderes. Georg und Marie müssen sich an die Veränderungen gewöhnen, die das alles mit sich bringt.«
Im Raum herrschte angespannte Stille, Clara wagte kaumzu atmen. Ilse schaute sie prüfend an. Es war ein scharfer Blick, den Clara noch nie an ihr bemerkt hatte. »Clara, ich bin kein Mensch, der viel redet. Und das hier sage ich nur einmal, also hör mir gut zu: Als Dorothea starb, hat es Leo fast umgebracht. Ich weiß nicht, ob er dir davon erzählt hat oder je davon erzählen wird, aber ich habe in den ersten Wochen wirklich um ihn gebangt. Er war wie von Sinnen.« Sie schluckte. »Wären die Kinder nicht gewesen, hätte er sich womöglich etwas angetan. Dorothea war erst achtundzwanzig. Sein ganzes Leben schien zu zerbrechen. Dann hat er sich wieder gefangen, vor allem wegen der Kinder. Sie haben ihm geholfen.«
»Und du«, sagte Clara tonlos.
Ilse zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Aber die Kinder waren am wichtigsten. Er liebt sie. Und er wird nur eine Frau heiraten, die es gut mit ihnen meint. Das tust du, das habe ich gesehen.«
Clara wollte etwas sagen, doch Ilse hob die Hand. »Lass mich ausreden. Er liebt dich. Ihr gehört zusammen. Und ich werde mir etwas eigenes suchen.« Sie hielt inne. »Die Stelle in der Bäckerei ist der Anfang. Ich erzähle Leo davon, wenn ich sicher bin, dass es klappt.«
Clara brachte kein Wort heraus. Was musste es Ilse gekostet haben, herzukommen und ihr das alles zu sagen?
»An mich braucht ihr nicht zu denken. Ich mache es mit mir aus.« Ilses Stimme klang plötzlich unsicher. »Große Gefühle sind nicht meine Sache, aber wenn es Leo gut geht … bin ich zufrieden.« Sie stand auf, doch Clara ergriff ihre Hand.
Dann schüttelte sie den Kopf, erhob sich und umarmte Ilse. Diese ließ es geschehen und löste sich schließlich sanft von ihr. »Wenn du ihn nicht willst, sag es ihm sofort und geh. Aber wenn du ihn willst, gibt es keine Ausrede.« Sie ging zur Tür. »Bis gleich beim Essen. Wir sollen nicht auf Leo warten. Er hat angerufen, es wird spät heute.«
Von Malchow sah Leo mit gespieltem Bedauern an. »Leider war mir nicht bekannt, dass Sie bei Ihren Ermittlungen mit dem fraglichen Herrn zu tun haben. Dann hätte ich Sie natürlich sofort verständigt. Ein organisatorisches Problem, dessen sich Herr Gennat demnächst annehmen wird. In diesem Dezernat weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut.«
Leo bewahrte Ruhe. Es hatte keinen Sinn, sich mit von Malchow anzulegen, wenn man etwas von ihm wollte.
»Gibt es Zeugen? Haben Sie schon mit der Vernehmung begonnen?«
Von Malchow nickte. »Die Schupos haben erste Befragungen am Tatort
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