Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Lehnhardt sprechen. Er hatte gelogen, ein erster Anhaltspunkt. Und doch passte nichts zusammen. Lehnhardt selbst hatte die Polizei auf den mysteriösen Tod seiner Tante aufmerksam gemacht. Seine tiefe Zuneigung zu ihr wirkte ebenfalls glaubwürdig. Doch warum hatte er dann behauptet, der kurze Brief stamme nicht von ihm? War er ihm peinlich gewesen? Oder hegte er Gefühle für seine Tante, die über das rein Verwandtschaftliche hinausgingen?
Leo blieb erneut stehen und blickte nachdenklich in das Fenster eines Tabakwarengeschäfts. Henriette Strauss war eine interessante Frau gewesen, das spürte er, wann immer er mit anderen über sie sprach. Clara war nach einer einzigen Begegnung von ihr fasziniert gewesen. Wie viel stärker mochte diese persönliche Anziehungskraft auf einen jungen Mann gewirkt haben?
Angenommen, es war so. Hatte sie seine Annäherungsversuche zurückgewiesen, war dies der Grund für seine Zeilen gewesen? Oder hatten sie bereits ein Verhältnis gehabt, das sie aus Gründen der Vernunft, des Anstands oder der Sorge um ihren Ruf beenden wollte? Er würde prüfen, wie Lehnhardt auf diese Vorwürfe reagierte.
Und dann war da der neue Fall – der Anschlag auf Stratow. Eine Frau, die mit dem Messer zustach – hier konnte eventuell Eifersucht im Spiel sein, vielleicht war es die Tat einer Geliebten, einer Nachfolgerin von Henriette Strauss. Oder es hatte mit Stratows Arbeit zu tun. Sobald ihnen das Phantombild vorlag, würden sie es im Luisenkrankenhaus herumzeigen. Mit etwas Glück war die Frau dort bekannt.
Am Hackeschen Markt überlegte Leo, ob er noch ein Stückweitergehen sollte. Kurzentschlossen wandte er sich in Richtung Oranienburger Straße. An einer Ecke stand ein gut gekleideter Mann und verteilte Flugblätter. Leo hielt zwar nichts davon, war aber in Gedanken versunken und ließ sich eins in die Hand drücken.
Er schaute erst darauf, als er im Bahnhof Friedrichstraße auf die Stadtbahn wartete.
16
SONNTAG, 4. NOVEMBER 1923
Gewöhnlich versuchte Leo, sonntags nicht zu arbeiten, doch nach den neuen Entwicklungen musste er den Morgen nutzen. Er wollte nach dem Mittagessen mit Georg und Marie ins Marionettentheater, das in einer benachbarten Gaststätte auftrat, und später mit Clara ins Café.
Er hatte Sonnenschein am Vortag gebeten, diesen Sonntag Dienst zu machen, da er ihn am Freitag früher nach Hause geschickt hatte.
Als Sonnenschein kurz nach ihm ins Büro kam und einen Blick auf Leos Schreibtisch warf, wurde er blass.
»Was ist los?«, fragte Leo.
Wortlos deutete Sonnenschein auf das Flugblatt, das Leo achtlos auf den Tisch gelegt hatte, nachdem er es in der Manteltasche entdeckt hatte.
»Ach, das hat man mir gestern Abend auf der Straße in die Hand gedrückt. Eigentlich schmeiße ich solchen Schund sofort weg.«
Er zerknüllte das Blatt und warf es in den Papierkorb. Dann bemerkte er Sonnenscheins Gesichtsausdruck. »Sonnenschein, das dürfen Sie nicht ernstnehmen. Diese Leute treiben sich überall herum.«
Sonnenschein setzte sich, sah Leo aber nicht an. »Sie treiben sich überall herum, wo Juden leben. Mein Vater hat gesagt, sie sind seit Tagen in der Gegend und verteilen ihre Zettel.«
»In welcher Gegend?«
»Mein Vater hat eine Fleischerei in der Gormannstraße«, erwiderte Sonnenschein leise.
Leo war überrascht. Die Gormannstraße lag mitten in der Spandauer Vorstadt, dort, wo die orthodoxen Juden, die armen »Ostjuden«, lebten. Natürlich wusste er, dass Sonnenschein Jude war, hätte aber nie damit gerechnet, dass er aus diesem Milieu stammte.
»Ich …« Er suchte nach den richtigen Worten, um den Kollegen nicht zu kränken. »Ich wusste nicht, dass Sie aus dieser Gegend kommen.«
Zum ersten Mal, seit Leo ihn kannte, wurde Sonnenschein sarkastisch. »Das sollten Sie auch nicht. Es war ein hartes Stück Arbeit, das zu werden, was ich jetzt bin.«
Leo sah ihn prüfend an. »Lassen Sie uns später darüber reden.« Dann berichtete er von dem Anschlag auf Dr. Stratow, worauf Sonnenschein sofort lebhafter wirkte.
Im nächsten Augenblick kamen Walther und Berns herein. Leo zeigte seinen Kollegen das Phantombild. »Ihr fahrt ins Luisenkrankenhaus und seht zu, ob Stratow ansprechbar ist. Wenn ja, befragt ihr ihn und zeigt ihm die Zeichnung. Anschließend geht ihr damit auf seine Station. Wenn das nichts ergibt, überprüft ihr alle anderen Stationen.«
»Das könnte leicht bis heute Abend dauern, Chef«, sagte Berns vorsichtig, während
Weitere Kostenlose Bücher