Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
schreiben, Wechsler.«
Leo war nicht ganz wohl bei der Sache. Lob war erfreulich, aber es sollte seiner Arbeit als Kriminalist gelten. Heldenmut war nicht seine Sache.
Leo ging in sein Büro zurück, holte sein Notizbuch heraus und schlug eine Adresse nach. Dr. Behnke, der Hausarzt der Lehnhardts. Er hatte nicht weiter an ihn gedacht, nachdem er die medizinischen Ermittlungen an die Hannoversche Straße übergeben hatte, doch nun war ihm eine Idee gekommen.
Er meldete sich telefonisch an und machte sich auf den Weg.
Die Praxis wirkte so altmodisch wie der Herr mit Kneifer, der ihn an der Tür empfing. Sein weißer Haarkranz stand waagerecht vom Kopf ab. »Meine Helferin hat heute frei«, sagte Dr. Behnke und führte Leo in ein Untersuchungszimmer, in dem die Zeit stehengeblieben schien. Dunkles Holz herrschte vor. An der Wand eine Vitrine mit antiken ärztlichen Instrumenten, eine Büste des Hippokrates, eine Wandtafelmit einem menschlichen Skelett samt detaillierten lateinischen Bezeichnungen der einzelnen Knochen.
Behnke bot ihm einen Sessel an und setzte sich hinter den Schreibtisch.
»Ich möchte Ihnen noch einige allgemeine Fragen über die Familie von Henriette Strauss stellen, Herr Dr. Behnke.«
»Ich muss Sie auf meine Schweigepflicht hinweisen, Herr Kommissar.«
»Gewiss. Es geht auch nicht um medizinische Einzelheiten, sondern eher um das, was Sie mir über die Familie und ihre Lebensumstände erzählen können.«
Behnkes Zögern war deutlich zu spüren. »Das Vertrauensverhältnis eines Arztes zu seinen Patienten hört nicht bei der Krankenakte auf. Daher können Sie von mir keine großen Enthüllungen erwarten – ganz davon abgesehen, dass es nichts zu enthüllen gibt.«
Leo erinnerte sich mit Grauen an das umständliche Telefonat, das er mit ihm zu Beginn der Ermittlungen geführt hatte. Hier würde er nur mit Geduld weiterkommen.
»Trotzdem können Sie mir gewiss in einigen Punkten Aufschluss geben«, sagte er höflich und ungerührt. »Zunächst wüsste ich gern, seit wann Sie die Familie Lehnhardt kennen.«
»Fragen Sie mich lieber, seit wann ich die Familie Strauss kenne. Ich war nämlich, bevor Rosa Strauss Gustav Lehnhardt heiratete, schon Hausarzt bei ihren Eltern. Ich kenne die Mädchen, wenn ich sie so nennen darf, seit ihrer Geburt.«
Das war nun interessant. »Dann haben Sie sie also aufwachsen sehen?«
Der alte Mann nickte und rückte den Kneifer zurecht. »Zwei ganz unterschiedliche Mädchen, das war erstaunlich anzusehen. Rosa war immer fügsam, eine Tochter, wie Eltern sie sich wünschen. Henriette hingegen widersprach gern,hatte ihren eigenen Kopf, auch wenn sie ein liebes Mädchen war. Sie war die musikalischere von beiden, was natürlich schade war, da ihre Schwester viel mehr Freude am Klavierspiel hatte. In jener Zeit spielten höhere Töchter noch Klavier für die Gäste des Hauses, sangen und begleiteten sich dabei. Zu Rosa hätte es besser gepasst, doch Henriette war begabter, hatte aber meist keine Lust dazu. Sie war ein Wildfang – aufgeschlagene Knie, zerrissene Kleider, ihre Mutter war oft verzweifelt.«
Leo überlegte, wie er seine Fragen in eine andere Richtung lenken konnte, ohne gleich auf Widerstand zu stoßen. Er musste behutsam vorgehen. »Zwei unterschiedliche Schwestern also. Das hat doch sicher zu Unstimmigkeiten geführt.«
»Ach, Sie wissen ja, wie es unter Geschwistern zugeht. Aber es war eigentlich nicht schwierig, da immerhin eine Tochter den Vorstellungen der Eltern entsprach. Rosa heiratete den Fabrikanten Gustav Lehnhardt, und sie führten eine glückliche Ehe. Mit Henriettes Eigenwillen hatten sie sich wohl abgefunden. Leider haben sie ihren Erfolg als Ärztin nicht mehr miterlebt, sie starben noch vor dem Krieg.« Er hielt inne. »Der Krieg hat den Frauen manches leichter gemacht. Aber sie war auch tüchtig, sehr tüchtig.«
»Ihr Neffe hat sehr an ihr gehangen.«
»Tante Jette«, meinte der Arzt lächelnd, »die hatte immer einen besonderen Platz in seinem Herzen.«
»Meinen Sie, seine Mutter könnte darauf eifersüchtig gewesen sein?« Leo merkte sofort, dass er die falsche Frage gestellt hatte.
»Aber nein, wie kommen Sie darauf?«, fragte Behnke stirnrunzelnd. »Er wusste, dass seine Mutter immer für ihn da war. Henriette bot den Reiz des Unbekannten, wenn ich so sagen darf, aber Rosa Lehnhardt hat alles für ihren Sohn getan. Sie hat sich auch gegen ihren Mann durchgesetzt, als dieser ihm eine Laufbahn als
Weitere Kostenlose Bücher