Die Tote von Charlottenburg: Kriminalroman (German Edition)
Nein, das war undenkbar. Er entfernte sich wieder, blickte über die Schulter zurück.
»Haben Sie bei Ihrer Tante oder Ihrer Mutter jemals einen Spiegel gesehen, dessen Rahmen mit bunten Samenkörnern beklebt war?«, hatte Kommissar Wechsler vorhin am Telefon gefragt.
Adrian hatte die Frage verneint. Hatte Wechsler sein Zögern bemerkt?
Er setzte sich auf einen gepolsterten Hocker, den Blick auf die Zimmertür seiner Mutter gerichtet. Warum hatte er gelogen? Die Polizei anzulügen, war dumm und überdies strafbar. Er selbst hatte diese Ermittlungen gewünscht, und nun sagte er ohne triftigen Grund die Unwahrheit. Oder gab es doch einen Grund? Der Spiegel musste eine Bedeutung für den Fall haben, sonst hätte Wechsler nicht danach gefragt.
Mit einem Ruck stand er auf, trat vor die Tür und drückte behutsam die Klinke nieder. Es war ein ungeheurer Vertrauensbruch.Er versuchte sich einzureden, dass er nur einen Blick ins Zimmer werfen, dass sie es ohnehin nicht merken würde. Und doch wusste er ganz genau, dass es ein unwiderruflicher Schritt war.
Der Spiegel war nicht da, das bemerkte er sofort. Doch das hieß noch nichts. Sie konnte ihn weiterverschenkt oder weggeräumt haben, vielleicht war er auch zerbrochen. Adrian stand im Schlafzimmer seiner Mutter und atmete tief den Geruch von Lavendel ein, der aus den Duftsäckchen im Schrank und den getrockneten Sträußen auf Fensterbank und Nachttisch drang.
Er drehte sich langsam im Kreis, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Natürlich hatten sich manche Dinge seit seiner Kindheit verändert, doch nichts wirkte auffällig oder fehl am Platz. Keine Spur von der Exotik, die Tante Jettes Wohnung prägte, keine Buddhas und bemalten Fächer, keine Duftkerzen und prickelnden Gewürze. Alles war kühl, sauber und glatt.
Er trat an den Kleiderschrank und öffnete die Türen, strich mit der Hand über die Kleider, dass die Bügel schaukelten. Nein, er würde nicht die Kleidung seiner Mutter durchwühlen.
Als er gerade den Schrank schließen wollte, fiel sein Blick auf die Wäscheschubladen. Zwischen Seidenstrümpfen ragte etwas Grünes hervor, und er zog die Schublade heraus. Ein Stapel Bücher. Obenauf ein dicker Band in grünem Leinen.
Adrian biss sich auf die Unterlippe und nahm das Buch vorsichtig heraus. Horchte auf Schritte, für die es viel zu früh war.
Ein schmuckloser Einband. »Buchheister – Ottersbach«, das schienen die Verfasser zu sein. Titel: ›Handbuch der Drogisten-Praxis‹. Er schlug es auf: ›Ein Lehr- und Nachschlagebuch für Drogisten, Farbwarenhändler usw‹. Darunter befand sich ein Stempel: »Eigentum der Firma Gustav Lehnhardt Druckluft-Technik, Berlin«
.
Adrian stand reglos da und starrte auf das Buch. Es stammte aus der Firma seines Vaters, der es wohl wegen der Angaben über Farbwaren in seiner Bibliothek gehabt hatte. Was aber hatte es im Kleiderschrank seiner Mutter zu suchen? Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie ausgerechnet ein Sachbuch als Andenken aufbewahrt haben sollte.
Er wollte das Buch gerade zurücklegen, als etwas herausrutschte und zu Boden fiel. Er bückte sich danach – eine Broschüre von vielleicht hundert Seiten. Er schlug sie auf und las die Titelseite:
Der giftige Eiweisskörper Abrin
und seine Wirkung auf das Blut.
Inaugural-Dissertation
zur Erlangung des Grades eines
Doctors der Medicin
Kaiserl. Universität zu Dorpat
Mit klopfendem Herzen setzte er sich auf einen Stuhl und blätterte in der Schrift, die von einem gewissen Heinrich Hellin stammte. Adrian erfasste nicht wirklich, was er las, doch einige Wörter brannten sich förmlich in sein Gehirn. »Toxische Wirkung«, »giftig«, »Giftstoff«. Weiter hinten ging es um Tierversuche. »Der Tod erfolgt nach 4 1 / 2 Stunden«, »Collaps erfolgt sofort«, »Das Tier crepirt um ein Uhr mittags«. Ihm wurde übel angesichts der Grausamkeiten, die an Katzen, Hunden, Kaninchen und Pferden verübt worden waren.
Er saß wie betäubt da. Dann blätterte er nach vorn. Hier wurde beschrieben, mit welchen Methoden man Gift aus Samen gewann. Er las Wörter wie »Kochsalzlösung« und »Essigsäure«, Begriffe, die er noch aus dem Chemieunterricht auf dem Gymnasium kannte.
Der Band wog plötzlich schwer in seiner Hand. Noch schwerer aber war sein Herz.
23
MITTWOCH, 7. NOVEMBER 1923
Leo, Walther, Sonnenschein und Berns hatten sich zur Morgenbesprechung getroffen. Es gab lauter unzufriedene Gesichter. Die
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