Die Tote von Harvard
verlangte sie Referate.«
»Die Studenten hier sind ein schnöder Haufen«, sagte Kate. »Hat sie selbst all das angesprochen?«
»Nein. Ich weiß es von anderen Studenten. Sogar Leighton hat sich einmal in eine ihrer Vorlesungen gesetzt. Langweil-Ville war ihre Meinung.«
»Nicht Clarkville«, stellte Kate traurig fest.
105
Neun
Bei dieser Aufgabe schien Miß – vor keiner Anstrengung zurückzu-schrecken, meist griff sie, wenn immer sich eine Gelegenheit bot, zu dem natürlichen Hilfsmittel direkter Fragen.
Henry James ›Bildnis einer Dame‹
Nachdem George ein weiteres Mal im Morgengrauen entschwunden war, genossen Kate und Sylvia ihren Lunch in Sylvias Appartement. »Wie unglaublich ruhig es bei dir ist«, seufzte Kate, die endlich wieder dem Dunster mit seinem Ambiente lebhafter Jugend und dem damit verbundenen Krach entronnen war. Sie saßen im Wohnzimmer und löffelten Joghurt aus Plastikbechern.
»Die schreckliche Wahrheit ist«, sagte Sylvia, nachdem sie sich Kates Bericht über den Verlauf ihres Vormittags angehört hatte,
»daß Janet wahrscheinlich in einem Harem glücklicher gewesen wäre, wo sie nur mit gelegentlichen Störungen durch den Sultan hätte rechnen müssen und die Hierarchien klar festgelegt sind. Sie hätte es eben gern gehabt, daß die Welt schön stillhält, damit sie sie durch ein Mikroskop betrachten konnte. Aber, armes Ding, sie war dazu verurteilt, in Zeiten zu leben und zu sterben, wo man nicht mal das Mikroskop stillhalten kann, ganz zu schweigen davon, die Welt darunter scharf in den Blick zu bekommen.«
»Und daß sie so schön war – alles umsonst«, sagte Kate. »Von all den Lügen, die über Charlotte Bronte erzählt werden, hasse ich eine ganz besonders: daß sie all ihr Talent dafür hergegeben hätte, schön zu sein. Natürlich hat das ein Mann in die Welt gesetzt, der keine Ahnung hatte. Manchmal denke ich, unscheinbare Mädchen haben es viel leichter im Leben: Sie kennen die Regeln und wissen, welches Spiel sie erwartet. Am Anfang mögen sie leiden, weil es ihnen nicht vergönnt ist, ihr Ego durch die Bewunderung der Männer zu strei-cheln. Aber so lernen sie jedenfalls, daß sie sich durch Leistungen behaupten müssen, wenn sie Anerkennung finden wollen. Und das wiegt den frühen Schmerz reichlich auf. Aber welches junge Mädchen würde einem das glauben? Herrje, ich schweife schon wieder ab. Ich glaube, mein Verstand läßt nach, oder es sind die Synapsen.
Leighton behauptet das jedenfalls, und sie hat wohl recht. Eigentlich wollte ich nur sagen, Janet wäre besser dran gewesen, hätte sie nur eins von beidem gehabt: Verstand oder Schönheit. Daß sie beides 106
hatte, brachte ihr nicht nur Einsamkeit, sondern auch den Tod.«
»Ihr Bruder kommt her, um ihre Sachen abzuholen«, sagte Sylvia. »Bei einem Notar in ihrer Heimatstadt hat sie ein Testament hinterlegt, sie will auf demselben Friedhof wie ihre Eltern begraben werden. Sie hat zwei Brüder. Ihr ganzes Geld hat Janet übrigens deren Kindern vermacht. Liegt dir daran, mit dem Bruder zu sprechen, wenn er kommt?«
»Mir läge mehr daran«, sagte Kate, »mich in Janets Wohnung umzusehen, ehe der Bruder kommt.«
»Das wird wohl kaum gehen. Die Polizei hat die Wohnung versiegelt. Versuchen wir lieber, daß dich der Bruder in die Wohnung läßt, während er da ist.«
»Ich nehme an, die Polizei hat sichergestellt, daß Janet niemanden zu Gast hatte, ehe sie starb, und daß ihr das Gift nicht in der Wohnung verabreicht wurde?«
»Darauf gibt es keinerlei Hinweise. Hast du irgendeine neue Idee? Falls nicht, müssen wir wohl der Tatsache ins Gesicht sehen, daß entweder Moon der Täter war, was du bestreitest, oder jemand, der Janet aus Motiven umbrachte, die überhaupt nichts mit ihr persönlich zu tun hatten – ein Verrückter, der seine Wut an Karrierefrauen auslassen oder Harvard vor Karrierefrauen bewahren wollte, was ja aufs selbe hinausläuft. Ich für meinen Teil halte diese Theorie allerdings für ziemlich unwahrscheinlich. Eine andere Möglichkeit, der du dich vielleicht auch stellen solltest, wäre natürlich, daß Luellen es war.«
»Sylvia, Luellen konnte durch jeden weiteren Kontakt mit Harvard doch nur verlieren. Deshalb verfiel sie ja auch darauf, der Polizei nichts von dem Anruf zu erzählen, mit dem man sie zu Janet an die Badewanne gelockt hat. Wie der Teufel würde sie davor zurück-schrecken, sich noch tiefer in die Sache zu verstricken.«
»Das ist deine Meinung, meine Liebe.
Weitere Kostenlose Bücher