Die Tote von Harvard
Vielleicht interessieren mich ja gerade die Dinge, die für den Zeitungsartikel ganz uninteressant gewesen wären. Was das sein könnte, weiß ich natürlich nicht.«
»O je«, sagte Judith. »Um elf hab ich ein Seminar.«
»Wenn wir heute nicht zu dem Interview mit mir kommen, dann holen wir das nach, sobald es Ihnen wieder paßt. Versprochen! Wie haben Sie Janet zu dem Interview bewegt? Fangen Sie ganz von vorn an, lassen Sie keine Einzelheit aus, keine einzige, auch, wenn sie Ihnen vielleicht albern vorkommt. Und haben Sie keine Angst, mich zu langweilen. Nutzen Sie die Gelegenheit, denn diese Chance gebe ich meinen Mitmenschen nur höchst selten.«
»Herrje. Also los: Ich rief sie in ihrem Büro an, sagte ihr meinen Namen und daß ich für den ›Independent‹ arbeite. Ob sie mir ein Interview geben würde. Und sie fragte, wie ich Ihnen schon neulich beim Dinner erzählte: Warum? Darauf ich: Weil sie die neue Professorin hier sei, die erste Frau mit einem Lehrstuhl bei den Anglisten.
Darauf sie: Was hätte das denn damit zu tun, daß sie eine Frau sei?
Darauf ich: Na, der sei doch eigens für eine Frau eingerichtet worden. Und da sagte sie, na gut, ich könne nach den Vorlesungen bei ihr im Büro vorbeikommen, wenn ich wollte. Also ging ich hin. Ihr Büro lag im Widener-Haus. Dann kam das kleine Techtelmechtel mit dem Tonband, von dem ich Ihnen gerade erzählt habe. Sie fragte mich nach meinen Hauptfächern und ich sagte: Biologie und Anth-ropologie. Darauf wollte sie wissen, wie ich zur Soziobiologie stehe, was einen übrigens jeder fragt, denn in dem Punkt spaltet sich Harvard in zwei Lager. Zu welchem Lager ich gehöre, wollte sie wissen, und ich sagte ihr, ich hielte nichts von der Soziobiologie. Aber sie hielte was davon, sagte sie, denn sie glaube an die Theorie, daß Eigenschaften wie zum Beispiel Altruismus in den Genen angelegt seien, um die Spezies zu erhalten. Und ich war sofort im Bild über sie, denn daran, wie sich Leute zur Soziobiologie stellen, kann man ziemlich genau ablesen, wie sie ansonsten denken. Können Sie mir folgen?«
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»Ich glaube, ich verstehe«, nickte Kate. »Sagen wir so: Die Sozi-obiologen glauben, alles liege in den Genen, sei von Geburt an vor-herbestimmt und programmiert. Und wer davon überzeugt ist, ist auch der Meinung, daß es keinen Sinn hat, die Menschen zu was Besserem erziehen zu wollen, als ihnen von Geburt an bestimmt ist.
Im anderen Lager stehen die, die glauben, daß auch soziale und kulturelle Faktoren von Bedeutung sind, daß die Menschen veränderbar und formbar sind. Professor Mandelbaum gehörte also zu denen, die meinen, daß allein die Gene alles bestimmen.«
»Im großen und ganzen haben Sie’s erfaßt. Na, ich hatte jedenfalls keine Lust, mich mit ihr darüber zu streiten, denn ich wollte sie ja zum Reden bringen. Also fing ich an: Wie großartig wir alle es fänden, daß es endlich bei den Anglisten einen Lehrstuhl für Frauen gäbe. Daß es ein Skandal sei, daß das erst jetzt geschehe, denn schließlich seien gut fünfzig Prozent aller promovierten Anglisten Frauen. Sie wirkte ärgerlich.«
»Ärgerlich?«
»Ja, irgendwie gereizt. Sie sagte: Sicher, man habe eine Frau ge-wollt, aber letzten Endes habe sie den Lehrstuhl ihrer wissenschaftlichen Qualifikation wegen bekommen, und dafür solle man sich interessieren. Also tat ich ihr den Gefallen und fragte sie danach. Aber was sie dann erzählt hat, hätte ich auch im Harvard-Bulletin nachle-sen können – in der Notiz, die zu ihrer Berufung erschienen ist. Um sie von ihrer ewigen wissenschaftlichen Qualifikation abzubringen, wollte ich wissen, wie es ihr in Harvard im Vergleich zu ihrer früheren Universität gefalle. Und sie sagte, das wisse sie noch nicht. Sie sagte, daß die Leute da, wo sie früher war, nicht dauernd darauf herumgeritten hätten, daß sie eine Frau ist. Sie sagte, es habe schon immer großartige Literaturwissenschaftlerinnen gegeben, deren Fachgebiet das siebzehnte Jahrhundert war. Von einer Rosamund Soundso sprach sie, glaube ich, und einer Helen Soundso und…«
»Rosamund Tuve, Helen White, Marjorie Hope Nicolson.«
»Haargenau«, sagte Judith. »Na, und dann sprach ich sie darauf an, was sie von feministischer Wissenschaft halte. Und sie sagte, das Ganze sei Unsinn, kompletter Unsinn, eine Modetorheit, so etwas gebe es gar nicht. Als Literaturwissenschaftlerin interessiere man sich dafür, ob die Lyrik, mit der man zu tun hat, gut ist, und für sonst gar
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