Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
handelte. Vielleicht war in Sarahs ehemaligem Zimmer ein Hinweis zu finden.
Gegen vier Uhr legte Mabel die Näharbeit zur Seite. Obwohl sie eine Nahsichtbrille trug, tränten ihre Augen, denn sie hatte schon länger nicht mehr derart angestrengt gearbeitet. Da es bald Zeit für den Tee war, beschloss Mabel, Abigail zu fragen, ob sie ihn zusammen in deren Boudoir einnehmen sollten. Im Haus war alles ruhig, als sie die breite Treppehinaufging. Abigails Zimmerflucht – ihr Schlafzimmer, das Ankleidezimmer und ein kleiner Salon, den sie selbst als Boudoir bezeichnete – befanden sich im ersten Stock im Westflügel. Der rote, weiche Teppich dämpte Mabels Schritte, während sie durch den holzgetäfelten Flur ging. An den Wänden hingen Porträts von längst verblichenen Tremaines, und bei einigen kam Mabel nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit mit Arthur festzustellen. Sie klopfte an Abigails Boudoirtür, erhielt jedoch keine Antwort. Vielleicht hatte sich die Cousine hingelegt und schlief? Leise öffnete Mabel die Tür. Sie wollte Abigail nicht wecken. Wenn sie schlief, würde sie den Tee in ihrem eigenen Zimmer trinken. Die Tür zu Abigails Schlafzimmer war nur angelehnt und es brannte kein Licht. Aufgrund des Regens war es in den Räumen dämmrig, als wäre der Abend bereits angebrochen. Vorsichtig spähte Mabel durch den Türspalt. Abigail lag tatsächlich im Bett, sie schlief jedoch nicht – und sie war nicht allein! Die Decke bedeckte sie nur bis zur Hüfte, und neben Abigail lag Justin Parker, der Chauffeur. So wie Gott ihn geschaffen hatte. Mabel keuchte vor Schreck und schlug doppelt erschrocken die Hand vor den Mund. Die beiden waren jedoch derart miteinander beschäftigt, dass keiner von ihnen Mabel bemerkte. Schnell zog sie sich zurück, bemüht, nicht das kleinste Geräusch zu machen.
Abigail und Justin, hämmerte es in Mabels Kopf. Du meine Güte, der Mann konnte doch ihr Sohn sein! Mabel war keinesfalls der Meinung, eine Frau mit sechzig Jahren müsse auf die Liebe, auch die körperliche Liebe, verzichten, diese Konstellation schockierte sie aber zutiefst. Sie war auch nicht so altmodisch zu denken, dass der Mann älter als die Frau sein müsse. Nein, es war gang und gäbe, wenn sich ältereDamen jüngere Männer, die ihre Söhne sein könnten, zum Geliebten nahmen. Das machten ihnen ja zahlreiche Prominente aus der Showbranche tagtäglich vor – aber Abigail und ihr Chauffeur!
Im Flur musste sich Mabel auf einen Stuhl sinken lassen. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie keinen Schritt weitergehen konnte. Nun, offenbar hatte Abigail nicht bemerkt, dass sie, Mabel, hinter ihr Geheimnis gekommen war, und Mabel würde die Sache gegenüber ihrer Cousine nicht ansprechen. Abigail war alt genug, um zu wissen, was sie tat. Mabel wünschte sich, nach Hause abreisen zu können, doch sie hatte Eric Cardell ihre Hilfe zugesichert. Und der Tod von Sarah Miller beschäftigte sie nach wie vor jede Sekunde.
Die Situation war mehr als peinlich, dennoch würde Mabel versuchen, sich nichts anmerken zu lassen, und abwarten, ob Abigail ihr Verhältnis zu dem Chauffeur von sich aus ansprach.
9
Mabel fieberte der Probe am Abend entgegen, da sie dann einen plausiblen Grund hatte, Higher Barton für ein paar Stunden zu verlassen. Ihr fiel es sichtlich schwer, Abigail gegenüber die Contenance zu bewahren und sich nicht anmerken zu lassen, dass sie Bescheid wusste.
Mabel war eine halbe Stunde vor Beginn der Probe im Gemeindesaal. Wie erhofft, war Eric Cardell schon anwesend, und Mabel zeigte ihm die drei ausgebesserten Kostüme. Der Regisseur warf einen kurzen Blick darauf, offenbar verstand er nichts von Nadelarbeiten, und murmelte: „Sehr schön, danke. Ich bin für deine Hilfe sehr dankbar.“
Mabel gab sich einen Ruck und fragte: „Sagen Sie … ähm … sag mal, Eric, diese Sarah Miller … sie war keine von hier?“
„Nein, und das hätte mir eine Lehre sein sollen“, gab Eric zur Antwort, seufzte und eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. „Die Leute von Lower Barton hängen nämlich an ihrer Geschichte und würden niemals ohne triftigen Grund Knall auf Fall verschwinden.“
„Ist es denn sicher, dass Sarah einfach abgehauen ist?“, hakte Mabel nach. „Vielleicht traten Umstände ein, die sie veranlassten zu gehen.“
Eric wirkte verärgert. „Es ist zwar nett, dass du versuchst, sie in Schutz zu nehmen, Mabel, Sarah hätte mich trotzdem informieren können, selbst wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher