Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
Sie liebte diese kornische Spezialität, die ursprünglich das Essen von Bergleuten war, sich aber längst zur Leibspeise der Touristen gemausert hatte. Seit Jahren gab es in allen großen Städten Englands, natürlich auch in London, Cornish-Pasty-Shops, dorthin wurden die Pasteten jedoch tiefgefroren geliefert und aufgetaut. In der Bäckerei in Looe backte man sie noch selbst, was sich in einem überaus köstlichen Geschmack widerspiegelte.
Mabel gelangte zur Seepromenade oberhalb des großzügigen Sandstrandes, am dem heute aufgrund des Wetternur wenig Betrieb herrschte. Eine Handvoll Menschen führte ihre Hunde aus, die ausgelassen in die sanften Wellen des Meeres sprangen und sich das nasse Fell ausgiebig schüttelten. Die Bänke auf der Promenade waren alle feucht, so aß Mabel ihre Pasty im Stehen und beschloss, einen Tearoom aufzusuchen, denn die herzhafte Fleischpastete hatte sie durstig gemacht. Als sie in die Lower Chapel Street einbog, sah sie an einem Laternenpfahl das bekannte Plakat hängen – „Verrat in Lower Barton“. Mabel blieb stehen und betrachtete das feine Gesicht des Mädchens, von dem sie jetzt wusste, dass es Sarah Miller war.
„Tja, ich sagte doch, die Sache wird touristisch vermarktet“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich und fuhr herum.
„Mr Daniels!“ Mabel wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, den Tierarzt zu sehen.
„Victor“, erinnerte er. „Wir waren schon mal beim Vornamen.“
Mabel nickte und fragte: „Was machen Sie hier in Looe? Ist Ihre Praxis so groß, dass Sie auch hier Patienten haben?“
„Auch ein Tierarzt hat mal einen freien Tag.“ Victor brummte und sein Gesicht verschloss sich.
„Es tut mir leid. Es geht mich selbstverständlich nichts an, was Sie in ihrer Freizeit tun.“
„Ganz richtig.“ Ein erneutes Brummen, und Mabel wollte sich schon verabschieden, als er hinzufügte. „Wollte gerade einen Tee trinken, wollen Sie mitkommen?“
Da Mabel dies ohnehin vorgehabt hatte, außerdem der Tee in Gesellschaft besser schmeckte, stimmte sie zu. Victor führte sie in einen kleinen Tearoom in einer Seitengasse der Fore Street, der gerade einmal zehn Personen Platz bot. Sie fanden den letzten freien Tisch und während sie sichsetzen, meinte Victor: „Den Schokoladen-Victorian-Sponge hier kann ich empfehlen, natürlich frisch gebacken, und die Marmelade für die Füllung wird ebenfalls selbst hergestellt. Also, wenn man süßes Zeugs mag. Oder möchten Sie lieber einen Cream Tee?“
Mabel schüttelte den Kopf und lächelte. „Danke, ich mache mir nicht viel aus Kuchen oder gar Cream Tee. Die Clotted Cream liegt mir nur stundenlang schwer im Magen.“
„Ja, im Alter müssen wir auf unsere Ernährung achten, man geht leicht auseinander“, entgegnete Victor wenig charmant.
Sie bestellten sich beide nur eine Kanne Tee, dann fragte Victor: „Haben Sie immer noch Interesse an unserem Festakt?“
„Inzwischen habe ich mich der Theatergruppe angeschlossen“, entgegnete Mabel stolz. „Ich helfe bei den Kostümen.“
Die buschigen Augenbrauen des Tierarztes schossen nach oben. „Nun, dann haben Sie also vor, länger in der Gegend zu bleiben?“
„Solange meine Cousine mich erträgt.“ Mabel nippte an ihrem Tee, der brühend heiß war. „Außerdem haben Sie mein Interesse an der Geschichte von Lower Barton geweckt. Ich möchte mir die Festivitäten und die Theateraufführung gerne ansehen.“
„Touristenfang.“ Victor winkte verächtlich ab. „Sie werden enttäuscht sein, sind aber alt genug, um zu wissen, was Sie machen.“
Mabel lag auf der Zunge zu sagen, dass er wohl kaum jünger als sie sein konnte, verkniff sich aber diese Bemerkung. Stattdessen fragte sie: „Kennen Sie eigentlich die Menschen in Lower Barton?“
Er runzelte die Stirn. „Sollte man meinen, hab’ mein ganzes Leben da verbracht, und kaum jemand, der kein Haustier hat, das früher oder später meine Behandlung braucht.“
Interessiert lehnte sich Mabel vor.
„Kennen Sie auch eine Rachel? Sie muss so Anfang zwanzig sein, mausbraunes Haar und, wenn sie geht, hinkt sie …“
„Rachel Wilmington, natürlich.“ Victor nickte und sah Mabel aufmerksam an. „Jeder in Lower Barton kennt die Geschichte der armen Rachel.“
„Arme Rachel?“, wiederholte Mabel. „Warum?“
Victor lächelte spöttisch.
„Hab’ Sie nicht als Tratschtante eingeschätzt, Mabel, dachte, Sie sind nicht am Gerede der Leute interessiert. Sie sind aber doch nur eine Frau, und
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