Die Tote Von Higher Barton: Ein Cornwall-Krimi
äußeren Hafenmauer, an der noch eine Bank frei war. „Danke für Ihr schnelles Kommen.“
„Was gibt es, Victor?“ Mabel wollte gleich zur Sache kommen. „Meine Cousine war wenig erfreut, dass ich sie nicht begleitet habe.“
Der Tierarzt lächelte verschmitzt, griff in die Innentasche seiner Cordjacke, holte ein Blatt Papier heraus und reichte es Mabel.
„Lesen Sie, und Sie werden verstehen.“
Erstaunt erkannte Mabel das Logo der Anwaltskanzlei Trengove in Truro. Das Schreiben war an Sarah Miller unter ihrer Bristoler Adresse gerichtet. Schnell huschten Mabels Augen über den Brief:
Sehr geehrte Miss Miller
,
wie in meinem ersten Schreiben vom dritten dieses Monats bereits avisiert, erlaube ich mir, Sie am Montag nächster Woche in der Erbschaftsangelegenheit von Sir Arthur Tremaine persönlich aufzusuchen, da ihre finanziellen Mittel eine Reise in meine Kanzlei nicht zulassen, wie Sie mir freundlicherweise mitteilten
.
Weiter erlaube ich mir, Ihnen anbei einen Scheck zu übersenden, der Ihre Ausgaben für die nächsten Tage decken wird. Bei meinem Besuch werde ich Ihnen die vollständigen Unterlagen meines Mandanten Arthur Tremaine vorlegen, aus denen hervorgeht, dass Sie, als seine leibliche Tochter, fünfzig Prozent seiner Hinterlassenschaft erben
…
„Fünfzig Prozent!“ Mabel keuchte, das Blatt entglitt ihren Händen. „Arthurs Tochter!“
„Psst, nicht so laut“, mahnte Victor und hob den Brief auf, bevor der Wind ihn fortwehen konnte. „Wussten Sie, dass Tremaine eine Tochter hatte?“
Mabel strich sich fahrig über die Stirn.
„Nein … ich … hatte keine Ahnung.“ Sie sah Victor an. „Sarah Miller war Arthurs Tochter?“ Plötzlich fiel ihr etwas anderes ein, und sie runzelte die Stirn. „Woher haben Sie diesen Brief, Victor? Ich glaube nicht, dass Alan Trengove Ihnen einen Durchschlag überlassen hat.“
„Nein, sicherlich nicht.“ Victor grinste und senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Ich war heute Vormittag noch mal in Bristol, bin ganz früh losgefahren. Sarahs Mitbewohnerin war nicht zu Hause und auch sonst war das Haus wie ausgestorben, da …“
„Sie sind eingebrochen!“ Mabel sprang von der Bank, ihre Augen funkelten aufgeregt. „Victor, das ist strafbar! Wenn Sie jemand gesehen hat …“
„Hat aber niemand. Bei unserem ersten Besuch habe ich sofort erkannt, dass es ein sehr einfaches Schloss ist, war kein Problem, es aufzubekommen. Ich war überzeugt, wir haben in Sarahs Zimmer etwas übersehen und richtig – ich fand den Brief unter der Matratze. Offenbar hielt es Sarah nicht für wichtig, ihn mit nach Cornwall zu nehmen.“
Mabel atmete tief ein und aus und bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Warum tun Sie das, Victor?“, fragte sie schließlich. „Sie haben einen Einbruch begangen und sich damit nicht nur in Gefahr gebracht, sondern sind auch mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.“
Er winkte ab und lächelte. „Ich spüre, dass Sie mir wegen der Sache mit Michael Hampton nicht mehr vertrauen, Mabel, und das zu Recht. Ich wollte etwas finden, das Sie … uns bezügliches des Todes von Sarah weiterbringt. Wie gesagt, es war nur so ein Gefühl, eine Ahnung, dass wir in Sarahs Zimmer etwas übersehen haben.“
Mabel nahm ihm den Brief aus der Hand und las die Zeilen erneut. Immer noch konnte sie nicht glauben, was dort schwarz auf weiß stand. Sarah Miller war Mitte zwanzig gewesen, folglich musste Arthur vor zweieinhalb Jahrzehnten eine Affäre gehabt haben. Offenbar hatte er sich die ganzen Jahre nicht um seine Tochter gekümmert, sonst hätte Sarah nicht in solch ärmlichen Umständen leben müssen. Aber Arthur war seit Jahren tot – warum schaltete sich erst jetzt ein Anwalt ein, um Sarah über das Erbe zu informieren? Wenngleich noch einige Fragen offen waren, ergab plötzlich vieles einen Sinn: Deshalb war Sarah nach Lower Barton gekommen und hatte Rachel erklärt, sie würde bald über die Mittel verfügen, um gemeinsam mit ihr ein unbeschwertes Leben in London führen zu können. Sarah hatte niemanden erpresst und wollte auch keinen Einbruch begehen. Warum auch, die Hälfte von Higher Barton hätte ihr ohnehin rechtmäßig zugestanden. Alles sprach dafür, dass sie Anspruch auf einen Teil eines nicht unerheblichen Vermögens hatte.
Und – diese Frage beschäftigte Mabel am stärksten – wusste Abigail von diesen Unterlagen? Bisher war sie die alleinige Erbin gewesen, und Higher Barton mit dem zugehörigen Landbesitz
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