Die Tote von Schoenbrunn
sadomasochistischen Praktiken hatte er nichts am Hut. Im Gegenteil, er war stolz darauf, ein überaus zärtlicher Liebhaber zu sein, was ihm viele seiner Eroberungen bereits bezeugt hatten. Kaum hatte er das Etablissement am Tiefen Graben hinter sich gelassen, zündete er sich ein Zigarillo an, um sich zu beruhigen. Ein paar Züge lang verweilte er in einem schützenden Hauseingang. Es regnete Schusterbuben. Kein Fiaker weit und breit. Er stülpte den Kragen seines Mantels hoch und ging im strömenden Regen zu Fuß nach Hause.
Nach diesem missglückten Herrenabend hatte Gustav keine Lust mehr, sich mit Karl Konstantin zu treffen. Er ließ sich sogar von seiner Tante verleugnen, als der Erzherzog am nächsten Tag seinen Diener mit der Botschaft schickte, er würde in seinem Wagen unten am großen Platz in den Hofstallungen auf ihn warten.
37
Zu Allerheiligen schneite es, so wie fast jedes Jahr. Gustav begleitete Dorothea zum Grab ihrer Mutter am Hietzinger Friedhof.
Die Gräber waren mit Schnee bedeckt und sahen wunderhübsch aus. Gustav ergriff Dorotheas Hand und führte sie durch die Gräberzeilen dieses Nobelfriedhofs, der auf sanft ansteigenden Terrassen errichtet worden war. Vorbei an Empire- und Biedermeiergräbern und prunkvollen Mausoleen schlenderten sie den Hang hinauf.
Einer der berühmtesten österreichischen Dichter, Franz Grillparzer, sowie der Sohn von Johann Nestroy, ein Namensvetter von Gustav, und die berühmte Tänzerin Fanny Elßler, der einst ganz Wien zu Füßen gelegen war, hatten hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.
Dorotheas Mutter lag nicht rein zufällig in dem Grab neben Johann Malfatti, dem Arzt von Ludwig van Beethoven, der 1802 die Gesellschaft der praktischen Ärzte in Wien gegründet hatte. Sie hatte den Mediziner sehr verehrt, also hatte Dorothea dafür gesorgt, dass sie in seiner unmittelbaren Nähe begraben wurde. Das moderne Grabmal hatte der junge Architekt Joseph Maria Olbrich entworfen. Seine Eltern waren mit der Familie Palme befreundet gewesen. Inmitten der klassizistischen Tempelbauten und neugotischen und neobarocken Friedhofskapellen, die alle sehr teuer und repräsentativ aussahen, wirkte das Grabmal von Dorotheas Mutter beinahe bescheiden: eine schlanke weibliche Gestalt, deren Haupt mit Lorbeer verziert war und die sich auf einen Stab stützte, der von einer Natter umschlungen wurde, ein weiblicher Asklepios also.
„Der Asklepiosstab ist, wie du weißt, das Symbol der Heilkunde“, sagte Dorothea.
„Äskulap war ein Mann“, warf Gustav ein.
„Na und? Der Hahn, die Eule, die Schlange und die Zypresse waren ihm jedenfalls heilig. Asklepios war der Sohn des Apollon. Es gelang ihm, einen Toten mit den magischen, heilenden Kräften des Blutes der Gorgone Medusa wieder zum Leben zu erwecken. Daraufhin schleuderte der eifersüchtige Zeus, der allein die Macht über Tod oder Leben haben wollte, einen Blitz auf Asklepios und tötete ihn“, erklärte Dorothea ihrem Freund, der die moderne Statue nun genauer betrachtete.
Auch viele Angehörige der Aristokratie waren am Hietzinger Friedhof begraben. Gustav las die Namen der Khevenhüllers, der Pálffys, der Esterházys und der Liechtensteins auf den pompösen Monumenten.
Dorothea verabschiedete sich vor der Grabstätte ihrer Familie von Gustav. Sie wollte kurz ungestört sein mit ihrer Mutter und danach ihre Freundin Marie Luise besuchen.
Gustav ließ sie ungern allein, wollte aber nicht aufdringlich erscheinen und machte sich betont langsam auf den Rückweg, in der Hoffnung, sie würde ihn vielleicht bald einholen.
Hinter der alten Friedhofsmauer glich der Hietzinger Friedhof mehr einem englischen Garten mit gepflegten Hecken und großzügig angelegten Gräberreihen. Da ihm Dorothea nicht folgte, nahm er die Abkürzung durch den Schönbrunner Schlosspark, um auf einen Sprung im Casino Dommayer vorbeizuschauen. Er war schon lange nicht mehr dort gewesen. Womöglich hatte mittlerweile jemand eine Nachricht für ihn hinterlassen. Sein Inserat war schon vor einigen Wochen erschienen.
Der Teich vor der Gloriette war zugefroren. Gustav wagte sich nicht aufs Eis, es war noch zu dünn. Lieber nahm er einen kleinen Umweg in Kauf und stapfte, die letzten Sonnenstrahlen im Rücken spürend, durch den gut zehn Zentimeter hohen Schnee am Ufer des Teichs.
Am Schönbrunner Berg geriet er ins Rutschen und landete auf dem Hosenboden. Fluchend rappelte er sich wieder auf, klopfte den Schnee von seinem Mantel und drehte sich
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