Die Tote von Schoenbrunn
noch einmal um, warf einen Blick auf die Sonne, die sich gerade hinter dem Ruhmestempel der Habsburger verabschiedete.
Stand da oben auf der Aussichtsplattform am Dach jemand? Die hohe, schlanke Gestalt war unverkennbar. Was um Himmels willen hatte Dorothea auf dem Dach der Gloriette verloren? Und wie war sie da überhaupt hinaufgekommen? Soviel Gustav wusste, führten links und rechts gusseiserne Wendeltreppen hinauf auf die Terrasse. Diese Treppen waren für die Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich, denn in der warmen Jahreszeit diente der Speise- und Festsaal Seiner Majestät dem Kaiser als Frühstückszimmer und jetzt war dort oben alles geschlossen.
Plötzlich erblickte er eine zweite Gestalt auf der Empore des Ruhmestempels. Dorothea schien den dunkel gekleideten Mann, der zu ihr hinaufschaute, noch nicht bemerkt zu haben. Sie stand mit dem Rücken zum Schloss an der Brüstung und betrachtete offensichtlich den fantastischen Sonnenuntergang.
Hatte sie womöglich ein heimliches Rendezvous mit diesem Kerl? Die Eifersucht brachte Gustav dazu, kehrtzumachen. Sorgsam darauf bedacht, nicht wieder auszurutschen, stapfte er zurück.
Der Mann verschwand aus seinem Blickfeld. Dennoch eilte Gustav, so schnell er konnte, weiter. Die kalte Luft raubte ihm den Atem. Er keuchte und geriet ins Schwitzen, als er die Silhouette plötzlich vor dem orangeroten Himmel erblickte. Der Mann stand nun auf der linken Plattform, nur ein paar Meter von Dorothea entfernt, und näherte sich ihr mit erhobenem Arm. Auch sie hatte ihn endlich entdeckt, fiel jedoch nicht in seine Arme, sondern wich vor ihm zurück.
Gustav stürzte die Stiege hinauf. Er hatte nur einen einzigen Gedanken: Würde er Dorothea rechtzeitig erreichen? Würde er sie retten können? Er schrie aus Leibeskräften. Schrie ihren Namen, schrie, bis seine Lunge zu platzen drohte.
Mit bloßen Händen versuchte Dorothea, das Messer des maskierten Mannes abzuwehren. Ihr Blut tropfte auf den frischen Schnee. Als er ihr das Messer in die Brust stoßen wollte, glitt die Klinge an den großen Knöpfen ihres Mantels ab.
Sie wollte ihm die Maske vom Gesicht reißen. In Sekundenschnelle registrierte sie, dass er dieselbe venezianische Maske trug wie der Scharlatan Giuseppe Cagnola auf dem Kostümfest. Sein Schlag traf sie in den Bauch, er war so heftig war, dass sie zu Boden gegangen wäre, wenn die Brüstung sie nicht aufgefangen hätte.
Gustav rannte um sein, oder besser gesagt um ihr Leben, nahm die nicht enden wollenden Stufen der Wendeltreppe im Laufschritt. Er verfluchte seinen ungesunden Lebenswandel, als er auf der obersten Stufe zusammenbrach.
Bevor ihm die Sinne schwanden, bekam er gerade noch mit, wie Dorothea dem Angreifer, der sich erneut auf sie stürzte, mit ihren Fingern ins Gesicht fuhr.
„Verfluchte Hexe!“, brüllte der Maskierte, ließ das Messer fallen und wollte Dorothea um die Taille packen und sie über die Brüstung werfen. Sie stieß ihm ihr Knie auf die Stelle zwischen seinen Beinen, wo es besonders wehtat. Als er sich zusammenkrümmte, riss sie ihm die Maske vom Gesicht und sah ihm in die Augen. Sie wusste, wer er war, hatte ihn schon vorher an seiner Stimme erkannt.
Als Gustav wieder zu sich kam, sah er in Dorotheas graublaue Augen, die vor Zorn fast schwarzblau funkelten.
„Du lebst“, stöhnte er.
Sie gab ihm einen Klaps auf die Wange und half ihm aufzustehen.
„Wo ist dieses Schwein?“, stieß Gustav hervor.
„Er ist da rübergelaufen, hat sich längst aus dem Staub gemacht.“ Sie zeigte auf die andere Seite der Terrasse. „Du brauchst ihn nicht zu verfolgen. Ich habe ihn erkannt. Und wir haben sein Messer.“ Sie zeigte Gustav einen Hirschfänger, an dessen Klinge Blut klebte. Dorotheas Blut. Fast wäre er wieder in Ohnmacht gefallen.
Er griff nach ihren Händen. Die Handflächen waren blutverschmiert.
„Du musst sofort zu einem Arzt!“
„Nein, das sind nur Kratzer. Ich habe dummerweise zuerst versucht, sein Messer mit meinen bloßen Händen abzuwehren.“
Plötzlich gaben ihre Knie nach. Gustav konnte sie gerade noch auffangen.
„Danke, Gustl! Du hast mir das Leben gerettet. Ich stehe tief in deiner Schuld“, sagte sie leise.
„Wieso denn, ich hab gar nichts gemacht. Du warst grandios, hast diesem Mörder Paroli geboten, du mein tapferes kleines Mädchen.“ Gustav streichelte zärtlich die rotblonden Locken, die unter ihrem Hut hervorquollen.
„Ich hätte auf die Dauer keine Chance gegen ihn gehabt.
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