Die Tote
Charlotte traute kaum ihren Augen – öffnete seinen obersten Hemdknopf.
»Herrschaften«, begann er und warf einen Blick in die Runde, »das ist zwar alles sehr unerquicklich, aber immerhin«, er legte für einen Moment die gefalteten Hände an die Lippen, »können wir die beiden Fälle ja dann wohl bald abschließen. Frau Wiegand, vielleicht fassen Sie kurz zusammen.«
Charlotte klopfte mit ihrem Bleistift auf den Tisch, wusste nicht so recht, wie sie ihre Erregung verbergen sollte. Ein toter Säugling war ihr in ihrer Laufbahn noch nicht untergekommen. Sie warf den Bleistift weg und räusperte sich.
»Tja, es sieht zumindest so aus. Allerdings kennen wir die Todesursache des Kindes noch nicht und wissen nicht, wer das Baby in dieser … Tasche dort abgestellt hat.« Sie schwieg einen Augenblick und nahm den Bleistift wieder auf. »Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass es die Mutter war, auch nicht, wenn das Kind tot geboren war. Die läuft doch nicht im Nachthemd rum und wirft ihr Kind in die Ihme. Da hängt noch jemand anderer mit drin, womöglich der Vater des Kindes. Ich könnte mir vorstellen, dass die junge Frau genau das verhindern wollte und deshalb in diesem Aufzug durch die Stadt gelaufen ist. Wahrscheinlich hatte sie gar keine Zeit, sich anzuziehen.«
»Das sind natürlich alles nur Mutmaßungen, Frau Wiegand«, mischte Ostermann sich ein. »Zugegeben, eine unfeine Sache, aber ich denke, wir gehen einfach mal davon aus, dass kein Verbrechen zugrunde liegt, außer, dass eine junge Frau ihr totes Neugeborenes nicht ganz vorschriftsmäßig … na ja, beerdigt hat.«
»Eine tote junge Frau, die wir immer noch nicht identifiziert haben«, ergänzte Charlotte und blickte in die Runde.
Maren, Bremer, Hohstedt und Schliemann schienen offenbar mit Ostermanns Erklärung ganz gut zurechtzukommen.
Sie stand auf. »Wenn Sie meinen«, sagte sie barsch, »dann können wir die Akte ja schließen.«
Fünf Augenpaare starrten sie verblüfft an.
»Moment, Frau Wiegand, setzen Sie sich. Natürlich müssen wir die Obduktion und die Laboruntersuchungen abwarten und die junge Frau identifizieren. Aber wir sind uns sicher einig, dass man das Ganze nicht dramatisieren sollte.« Ostermann blickte in die Runde.
Schliemann nickte und verkniff sich ein Gähnen, sonst reagierte niemand.
Charlotte stützte die Hände auf dem Tisch ab. »Finden Sie denn das Ganze nicht seltsam? Da finden wir eine junge Mutter tot an der Kröpcke-Uhr, verletzt, gestorben an einem An… an einem Ballon im Kopf, bekleidet nur mit einem Nachthemd, was ja für sich genommen schon seltsam genug ist. Das tut man doch nicht einfach, weil’s Spaß macht. Das Mädchen ist weggelaufen, und irgendwer hat sie geschlagen.« Sie wischte Schliemanns Einwand, dass Wedel sich bei der Herkunft der Wunde nicht eindeutig auf Fremdverschulden festgelegt hatte, beiseite, bevor er ihn formulieren konnte. »Dann finden wir das Baby in einer Reisetasche, die mit Steinen beschwert ist. Na, wenn da nicht irgendjemand höllisch was zu verbergen hat, dann hab ich keine Ahnung von meinem Job.«
Charlotte schluckte, spürte, dass sie zu weit gegangen war.
Ostermann musterte sie herablassend. »Frau Wiegand, wir alle verstehen was von unserem Job, und wenn es hier etwas herauszufinden gibt, dann werden Sie, die Mitarbeiter meiner Abteilung, das hoffentlich tun. Aber zunächst können wir davon ausgehen, dass es sich hier um eine – zugegeben schreckliche – Tragödie handelt und nicht um einen Mordfall. Wahrscheinlich hat die bedauernswerte Mutter in ihrer Not das Kind zur Ihme gebracht, sich dabei verletzt und ist gestorben. Ich glaube, Sie steigern sich da in etwas hinein. Deswegen würde ich vorschlagen, dass Sie, Herr Bremer«, er nickte Bremer zu, »sich bis auf Weiteres um die Ermittlungen kümmern, sprich versuchen, die Identität der jungen Frau herauszufinden. Gibt es in dem anderen Vermisstenfall etwas Neues?«
Da die Frage offensichtlich an Bremer gerichtet war, hüllte Charlotte sich in Schweigen. Bremer informierte seinen Chef, dass es keine neuen Erkenntnisse im Fall Alina Wildner gebe und die Kollegen die Telefonliste noch abarbeiteten. Das Handy konnte nicht geortet werden, und das Bewegungsprofil habe ebenfalls nichts Verdächtiges ergeben.
Ostermann stand auf. »Na ja, Sie wissen ja alle, was Sie zu tun haben. Und Sie, Frau Wiegand, werden mir unverzüglich Ihren noch ausstehenden Bericht nachliefern.« Er sah auf die Uhr. »Ich
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