Die Tote
war geistig voll auf der Höhe.
»Bis jetzt nicht«, antwortete Charlotte. »Sagen Sie, haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Ist dem Mädchen eventuell jemand gefolgt?«
»Nee, also da hab ich nix mehr gesehen. Ich war auch nur ganz kurz draußen. Ich sach ja, ich musste wieder rein, aufs Klo.« Er ruckte wieder vor. »Mit dem Schlafen, das is nich mehr das Wahre, wenn man alt is. Aber das is nich das Einzige, was dann nich mehr das Wahre is.« Er winkte ab und stieß ein heiseres Kichern aus. »Se wissen schon, was ich meine.« Dabei zwinkerte er Bremer zu, der tatsächlich rot wurde.
Charlotte biss sich auf die Lippen und stand auf. Wöhler und Bremer ebenfalls, nur dass Wöhler flinker war. Vielleicht ist er ja doch noch keine Hundert, dachte Charlotte, als sie den Flur entlanggingen. Die Schuhsohlen klebten auf dem dunklen Linoleum. Charlotte drehte sich um.
»Wie alt sind Sie, Herr Wöhler?«, fragte sie.
Er zwinkerte und stupste sie an.
»Vierundneunzig«, sagte er und ließ ein einwandfreies Gebiss sehen. Plötzlich schien ihm noch etwas einzufallen. »Warten Se, warten Se, die beiden Kerle von gegenüber, die standen inner Haustür, waren wohl grad angekommen. Die müssten se eigentlich auch gesehen haben, die junge Frau. Aber«, er gluckste und winkte Charlotte zu sich heran, als wolle er ihr ein Geheimnis verraten, »wenn die beiden überhaupt ’n Mädchen angucken. Die sind nämlich … na, Se wissen schon, vom andern Ufer.«
Dabei wies er mit dem Daumen über seine Schulter, als wäre das andere Ufer in seiner Wohnung.
»Wo wohnen die beiden denn genau?«, wollte Charlotte wissen.
Wöhler kratzte sich am Kopf. »Na, wo genau, weiß ich jetz auch nich, auf jeden Fall auffer andern Seite vom Platz. Da seh ich se manchmal turteln. Find das ja ungehörig, aber bitte, wenn se meinen.«
»Und wie sie heißen, wissen Sie nicht zufällig?«
»Nee, woher denn? Man läuft sich hier eben manchmal übern Weg.«
Charlotte nickte und gab ihm ihre Karte.
»Sie haben uns sehr geholfen, Herr Wöhler, und falls Ihnen noch was einfällt, rufen Sie mich gerne an.«
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und folgte Bremer nach draußen. Der alte Mann sah ihr ein bisschen wehmütig nach.
Einige Augenblicke standen die beiden still auf dem Friedrich-Ebert-Platz, der von dreistöckigen Reihenhäusern aus rotem Backstein umgeben war, und sahen sich um. Er war nicht groß. Charlotte schätzte, dass er nicht viel mehr als fünfzig mal hundert Meter maß. Schüchtern fiel Sonnenlicht durch die maigrünen Wipfel der Ahornbäume und Linden, die sich um einen flachen, rechteckigen Brunnen gruppierten. Mitten im Brunnen stand ein Betonsockel mit einer Frauengestalt, die vier Delphine umringten, die normalerweise wohl Wasser spien. Aber anscheinend war der Brunnen außer Betrieb, denn das grüne Wasser dümpelte bewegungslos in dem flachen Becken. Ein paar verwitterte Holzbänke standen an Beeten mit spärlich blühenden Buschrosen. An der Ostseite donnerte der Verkehr über den Ricklinger Stadtweg. Die Stadtbahn-Haltestelle war keine zweihundert Meter entfernt.
»Sie muss hier irgendwo gewohnt haben, da bin ich mir sicher«, murmelte Charlotte und tastete mit den Augen die stillen Fassaden ab.
»Das glaub ich auch«, stimmte Bremer zu, »man läuft nicht weit durch die Stadt, wenn man nur ein Nachthemd am Leib hat.«
»Die Frage ist bloß, wieso sie überhaupt nachts hier rumgelaufen ist. Ich glaube, sie ist weggelaufen. Vor wem auch immer. Dafür spricht auch, dass sich keiner meldet, der sie vermisst.«
Sie gingen langsam über den Platz Richtung Bebelstraße.
»Vielleicht war sie ja wirklich nicht ganz richtig im Kopf«, sagte Bremer und kramte seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche.
»Und wieso vermisst sie dann keiner?«
»Was weiß ich. Das heißt ja dann wohl, dass wir hier alle Anwohner abklappern müssen, oder?«
»Genau«, stimmte Charlotte zu und deutete mit dem Kopf auf eine der Haustüren, »und wir fangen am besten gleich damit an.«
Bremer zog ein langes Gesicht. »Wie? Wir alleine?«
Charlotte wollte schon »Aber klar« sagen, um Bremer zu ärgern, kam aber nicht dazu, weil ihr Handy sich meldete.
»Maren, was gibt’s?«, meldete sie sich. Einen Moment hörte sie schweigend zu.
»Ist gut«, sagte sie dann leise und legte auf.
Bremer zog die hohe Stirn in Falten und sah seine Chefin fragend an.
»Eine Joggerin hat an der Ihme die Leiche eines Säuglings gefunden.«
Sie hielten an
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