Die Tote
seiner Mutter ging es ihr ähnlich. Irgendwas stimmte da ganz und gar nicht, und ihr Chef wollte die Sache möglichst schnell vom Tisch haben. Sie seufzte und druckte den Bericht über den ehemals Vermissten aus, der ziemlich kurz ausgefallen war. Aber das war ihr egal. Sie war sicher, dass Ostermann es nicht mal bemerken würde. Meine Güte, sie konnte den Tag kaum abwarten, an dem der Mann sich vom Dienst verabschieden würde.
Sie wollte gerade den Computer herunterfahren und sich auf den Heimweg machen, als es klopfte und Ostermann in der Tür erschien. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Schnell nahm sie das Blatt Papier aus dem Drucker und hielt es ihm hin.
»Hier, der Bericht«, sagte sie kurz und räumte demonstrativ die Tastatur zur Seite.
Aber Ostermann hatte wohl andere Pläne.
»Frau Wiegand, setzen Sie sich«, flötete er mit ausgesuchter Höflichkeit, die Charlotte derart verblüffte, dass sie wieder in ihren Stuhl sank. Ihr Noch-Chef legte die Hände auf seinen verlängerten Rücken und setzte zu seinem obligatorischen Marsch an.
»Frau Wiegand, wir kennen uns ja nun schon viele Jahre, in denen Sie immer gute Arbeit geleistet haben … man sich auf Sie verlassen konnte.« Charlotte legte den Kopf schräg. Das war interessant. »… und deswegen habe ich eine etwas … sagen wir mal ungewöhnliche Bitte an Sie.«
»Ach.«
»Tja … es handelt sich um meinen Freund in der Landesregierung, Willi Querenberg, Sie wissen schon, er war ja schon gelegentlich im Gespräch für ein Ministeramt.« Ostermann blieb stehen und stützte sich mit beiden Händen auf ihrem Schreibtisch ab. »Und deswegen muss das Ganze auch unter uns bleiben.«
Charlotte wartete gespannt.
»Also, um es kurz zu machen. Seine Tochter ist seit gestern Abend verschwunden.«
»Ah, ja?«
»Natürlich werden Sie jetzt sagen, dass das schon mal vorkommt. Tut es ja auch, aber in diesem Fall … Sie ist erst fünfzehn, müssen Sie wissen und … nun … ihr Vater hat den Verdacht, dass sie Drogen nimmt, und er möchte verständlicherweise nicht, dass das an die Öffentlichkeit kommt.«
Wer will das schon, dachte Charlotte, sagte aber nichts.
Ostermann beobachtete sie und schien auf eine Reaktion zu warten. Als keine kam, nahm er seine Wanderung wieder auf.
»Jedenfalls ist er an mich herangetreten und hat gefragt, ob man die Angelegenheit nicht diskret, also ohne offizielle Vermisstenanzeige, lösen kann.«
»Und Sie meinen …« Charlotte kam nicht dazu, den Satz so zu vollenden, wie sie es vorgehabt hatte, denn Ostermann hob abwehrend die Hände.
»Nein, nein, nicht, was Sie denken, keine aufwendigen Ermittlungen.«
Charlotte fragte sich, was er wohl sagen würde, wenn er wüsste, was sie tatsächlich dachte. Nämlich, dass Sie ihn für einen profilierungssüchtigen Affen hielt, der seine Mitarbeiter benutzte, um vor seinem Freund den dicken Anton zu markieren.
Er kramte einen Zettel aus der Hosentasche und legte ihn ihr hin.
»Herr Querenberg ist sich ziemlich sicher, dass sie sich bei diesem Herrn aufhält.« Er tippte mit seinem Finger auf eine handschriftlich notierte Adresse.
»Und warum geht er nicht einfach hin und holt sie?«, knurrte Charlotte.
»Na ja, das hat er ja versucht, aber das Mädchen lässt sich verleugnen, und nun wäre der nächste Schritt eine Anzeige. Aber er möchte es gern vorher auf diesem Weg versuchen.«
»Auf welchem Weg?«
»Na, Sie könnten sich vielleicht mal in der Nähe des Hauses aufhalten und dann dem Herrn Ihre Marke zeigen. Der glaubt nämlich nicht, dass Willi … dass Herr Querenberg die Polizei einschalten würde.«
»Ach, und da haben Sie gedacht, dafür bin ich die Richtige?«
Ostermann nickte stumm.
Charlotte schluckte. Ihr kam ein Verdacht. »Haben Sie deshalb Bremer die Ermittlungen im Kröpcke-Fall übertragen?«
»Aber nein, Frau Wiegand. Ich halte diesen Fall nur einfach nicht für … relevant. Und Sie können versichert sein, dass – sollte er sich wider Erwarten doch als relevant erweisen – ich ihn sofort wieder in Ihre Hände gebe.«
Das schlug doch dem Fass den Boden aus! Der Kerl korrumpierte sie! Und sie – da gab es keinen Zweifel – würde sich korrumpieren lassen. Sie starrte ihren Noch-Chef an, um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sie ihn genau verstanden hatte.
Gemessen stand sie auf, nahm den Zettel und las. Eine Adresse in Waldhausen. Auch das noch, da wohnten doch Exkanzler und Expräsident, oder war das Waldheim?
»Ich kümmere mich
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