Die Tote
drum«, sagte sie und ging zur Tür.
»Das ist gut. Ich wusste, ich kann mich auf Sie verlassen.«
Bevor Charlotte die Tür von außen schließen konnte, hatte sie das Gefühl, dass er sich die Hände rieb.
Sie wollte es möglichst schnell hinter sich bringen und fuhr nach Waldhausen. Die Adresse in der Grazer Straße gehörte zu einer mehrstöckigen gepflegten Villa. Den Vorgarten zierten Rosensträucher und üppig mit noch jungen weißen und roten Geranien und Petunien bepflanzte Blumenkübel. Charlotte ging über den gepflasterten Weg zu der weißen Haustür und drückte auf die Klingel, die zum Erdgeschoss gehörte. Der Bewohner trug den klangvollen Namen »Weinlaub«.
Ein Mann mittleren Alters öffnete persönlich. Er trug Jeans und eine dunkelgraue Anzugjacke, sein dichtes strohblondes Haar fiel ihm in die Stirn.
»Ja?«, sagte er und musterte Charlotte mit anerkennendem Grinsen. »Was für ein erfreulicher Besuch. Was kann ich denn für Sie tun?«
Dabei strich er seine Haartolle aus dem Gesicht. Eine Geste, die Charlotte an irgendwas erinnerte.
Ohne lange zu fackeln, zückte sie ihren Ausweis. »Kripo Hannover, Wiegand mein Name. Nach meinen Informationen hält sich ein junges Mädchen bei Ihnen auf. Ich komme, um sie abzuholen.«
Der Kerl grinste frech. »Und wenn sie nicht will?«
Charlotte wechselte das Standbein und verschränkte die Arme. »Dann werde ich zuerst Sie mitnehmen.«
Weinlaub steckte die Hände in die Hosentaschen und verzog den Mund.
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Seit wann ist es strafbar, junge Frauen bei sich wohnen zu lassen?«
Charlotte schüttelte ungläubig den Kopf. War der Kerl so dumm, oder tat er nur so?
»Lassen Sie mich nachdenken«, antwortete sie, »ich glaube Pädophilie ist schon seit Jahrhunderten strafbar.«
Das wischte dem Kerl sein Grinsen aus dem Gesicht.
»Pädophilie, wieso Pädophilie?«, hauchte er fassungslos, dann schien ihm ein Licht aufzugehen.
»Sara!«, schrie er und verschwand in der Wohnung. »Wie alt bist du?«
Charlotte folgte ihm durch einen modern eingerichteten Flur, dessen Wände mit Bildern abstrakter Kunst behängt waren. Jedenfalls bezeichnete Charlotte diese Art Malerei so und fragte sich im selben Moment, ob das überhaupt Malerei war. Ihr kam es so vor, als habe sich jemand mit Zirkel und Lineal ausgetobt, und dann die Kreise und geometrischen Figuren bunt ausgemalt. Erinnerte sie irgendwie an ihren Matheunterricht in der vierten Klasse. Im Wohnzimmer wurde derweil gestritten.
»Bist du bescheuert! Willst du, dass ich im Knast lande?«, schrie eine männliche Stimme.
Charlotte betrat das Wohnzimmer und prallte zurück, weil eine üppige junge Frau mit langem kastanienbraunem Haar an ihr vorbeistürmte. Sie war genauso groß wie Charlotte und rannte schluchzend ins Nebenzimmer.
»Äh«, Weinlaub stand mit hochgezogenen Schultern in der Wohnzimmertür, »ich hatte keine Ahnung, dachte wirklich, sie wäre über achtzehn.«
»Das sagen alle«, antwortete Charlotte.
Wenigstens war der Kerl zahm geworden, dachte sie. In diesem Moment kam das Mädchen, einen Rucksack über die Schulter geworfen, heulend aus dem Nebenzimmer.
Charlotte konnte kaum glauben, dass sie erst fünfzehn sein sollte, und musste dem Kerl widerwillig recht geben.
»Na, dann wollen wir mal«, sagte sie, aber das Mädchen starrte sie zornig an.
»Wieso sollte ich mit Ihnen mitgehen? Ich komme auch allein zurecht. Ich geh auf keinen Fall nach Hause!«
»Okay«, Charlotte beschloss, ein bisschen die Daumenschrauben anzulegen, »dann schalten wir jetzt das Jugendamt ein, die werden da schon eine Lösung finden.«
Das Mädchen erstarrte. »Was … wieso denn jetzt Jugendamt?«
»Entweder die oder deine Eltern.«
»Nun, geh schon nach Hause, verdammt!«, zischte Weinlaub. »Benimm dich nicht wie ein Baby.«
Der Unterkiefer des Mädchens zitterte. »Du bist so ein … Schwein!«, rief sie, brach in Tränen aus und rannte hinaus.
Charlotte lief hinterher. Sie hatte Mühe, das Mädchen auf der Straße einzuholen.
»Nun kommen Sie schon!«, rief sie. »Erzählen Sie mir, was los ist.« Charlotte hatte zwar überhaupt keine Lust, jetzt für einen Teenager die Kummertante zu spielen, aber was blieb ihr übrig? Sie fand, Ostermann schuldete ihr was. Nur schade, dass sie davon nicht mehr lange profitieren konnte.
Nach einer knappen Stunde, in der Sara sich bitter über ihren autoritären, spießigen, hinterwäldlerischen, uncoolen Vater beschwert hatte,
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