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Die Tote

Die Tote

Titel: Die Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion
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Quer über ihre Knie lag eine Art Zeigestock, mit dem sie den Lichtschalter im Flur betätigte und die beiden Beamtinnen aus wachen, hellen Augen musterte. Die grauen streichholzkurzen Haare waren perfekt frisiert. Sie hatte eine lange, schmale Nase, deren Spitze wie platt gedrückt aussah, sodass die Nasenlöcher weit offen waren.
    »Sind Ihre Leute unterwegs?«, schoss es aus ihrem schmallippigen Mund heraus.
    Es klang wie ein Befehl, nicht wie eine Frage. Charlottes anfängliches Mitleid mit einer Mutter, der sie den Tod ihres Sohnes begreiflich machen musste, übertrug sich auf den Sohn. Sie wollte sich nicht vorstellen, wie sein Leben unter der Fuchtel dieser Frau wohl ausgesehen hatte.
    Kurz bevor sie in der Wallensteinstraße angekommen waren, hatte Charlotte noch mal in der Rechtsmedizin angerufen, um herauszufinden, wie der Mann zu Tode gekommen war. Die Obduktion war zwar noch nicht beendet, aber Wedel hatte ihr durch denselben Studenten – anscheinend hatte er die Prozedur bisher durchgehalten – bestellen lassen, dass Drillich nicht ertrunken war. In der Lunge befand sich kein Wasser, der Mann war schon tot gewesen, als er im Kanal landete. Mehr wollte Wedel nicht sagen, er war ja noch nicht fertig, aber mehr hatte Charlotte auch vorerst nicht wissen wollen. Der Mann war also ermordet worden. Das machte die Nachricht für eine Mutter nicht leichter verdaulich.
    Charlotte musterte Frau Drillich kühl. »Könnten wir uns vielleicht setzen?«, fragte sie.
    »Wozu?«, kam die Gegenfrage. »Wir sollten hier nicht rumsitzen. Gehen Sie lieber raus und suchen Sie nach dem Bengel. Gott weiß, was er wieder angestellt hat«, murmelte sie etwas leiser vor sich hin.
    Auch gut, dachte Charlotte. Du willst es auf die harte Tour. Die kannst du haben.
    Sie reichte der Frau ein Foto des Verstorbenen.
    »Ist das Ihr Sohn?«, fragte sie. »Wenn ja, dann brauchen wir ihn nicht mehr zu suchen, Frau Drillich, dann haben wir ihn gefunden. Er ist tot.«
    Die Frau alterte in Sekunden. Sie sank förmlich in sich zusammen und wurde grau, der Glanz aus den eben noch wachen Augen verlosch. Charlotte schluckte. Vielleicht war sie doch zu hart gewesen.
    »Sollten wir nicht ins Wohnzimmer gehen«, schlug sie vor. Maren legte ihre Hand auf die Schulter der alten Frau.
    »Können wir jemanden anrufen, der sich um Sie kümmert?«, fragte Charlotte, während Maren den Rollstuhl in das angrenzende Wohnzimmer schob.
    »Meine Schwester«, kam es leise, »meine Schwester wohnt nebenan, Wegener.«
    Charlotte gab Maren ein Zeichen, und die verließ die Wohnung.
    »Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Charlotte, aber Frau Drillich schüttelte stumm den Kopf.
    Im Raum herrschte tadellose Ordnung. Er war klein, praktisch und sauber. Ein dunkelbraunes Sofa und ein dazu passender Sessel standen um einen quadratischen Couchtisch herum, dessen Mitte ein ebenso quadratisches weißes Deckchen schmückte, auf dem mittig eine kleine Kristallschale mit Schokoladeneiern stand.
    Eine korpulente Frau im bunten Kittel betrat – gefolgt von Maren – das Wohnzimmer. Sie nickte Charlotte kurz zu und wandte sich sofort an ihre Schwester, ohne sich ihr zu nähern.
    »Stimmt das?«, fragte sie atemlos. »Ist Eckhard …«
    »Ja!«, bellte Frau Drillich, die reglos aus dem Fenster auf die Wand des gegenüberliegenden Gebäudes starrte. »Es stimmt.«
    Frau Wegener sank auf den Sessel. »Ja, aber … wie denn? Wo denn?« Hilflos blickte die Frau die Beamtinnen an und kramte dann ein Taschentuch aus ihrer Kitteltasche. »Das ist ja furchtbar«, schluchzte sie, und Charlotte stellte fest, dass die Tante die Fragen stellte, die man eigentlich von der Mutter erwartet hätte, und dass diese auch deren Tränen vergoss.
    Charlotte räusperte sich. »Wir haben Ihren Sohn gestern Abend im Mittellandkanal an der Hindenburg-Schleuse gefunden.«
    »Im Mittellandkanal? Ja aber, er konnte doch schwimmen!« Frau Wegener fummelte mit ihrem Taschentuch herum und sah ihre Schwester verwirrt an.
    Frau Drillich antwortete nicht, starrte nur weiter aus dem Fenster, sodass Frau Wegener ihren Blick auf Charlotte richtete.
    »Ihr … Neffe ist nicht ertrunken. Nach unseren bisherigen Erkenntnissen wurde er ermordet.«
    Frau Wegener stieß einen Schrei aus. »Aber … das ist doch unmöglich!«
    Endlich zeigte auch die Mutter eine Reaktion. Sie drehte sich vom Fenster weg und starrte Charlotte an.
    »Was sagen Sie da?«, hauchte sie.
    Charlotte schwieg einen

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