Die Tote
viel Angst? Charlotte fragte sich plötzlich, ob ihre Mutter ihren Vater immer noch liebte und ihm immer treu gewesen war. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln. Blödsinn. Natürlich war ihre Mutter immer treu gewesen. In ihrer Generation und als praktizierende Katholikin nahm sie diese Dinge sehr ernst. Ehebruch war undenkbar.
Aber lieben durfte man doch, wen man wollte. Liebe ließ sich nicht verbieten, und sie war auch nicht vernünftig. Sie war einfach da, ob sie einem nun in den Kram passte oder nicht. Sie ließ sich auch nicht verjagen, etwa nach dem Motto »Los verschwinde, ich will dich nicht«. Gefühle konnte man nun mal nicht manipulieren. Sie überfielen einen wie plötzliche Unwetter, und man musste sie eben hinnehmen.
Wie praktisch wäre das Leben, wenn man Gefühle ganz nach Gusto an- und abstellen könnte. Man würde eben denjenigen lieben, der schon immer die vernünftigste, beste, wenn auch nicht attraktivste Wahl gewesen wäre. Einfach die Liebe nach Bedarf anknipsen, heiraten, Kinder kriegen, und alles war gut. Was hatte die Natur sich bloß dabei gedacht, die Liebe so starrköpfig zu machen? Wie unklug!
Charlotte ging die Burgstraße entlang und bog dann rechts ab auf den Ballhofplatz. Sie war ziemlich atemlos, denn sie musste sich beeilen. Wedel brachte es fertig, einfach wieder zu verschwinden, bevor sie da war. Er hielt es nie lange an einem Ort aus, der nicht die Rechtsmedizin war. Das hatte ihr seine Frau verraten, als sie in der Rechtsmedizin sein dreißigjähriges Dienstjubiläum feierten, das Frau Dr. Schneider, seine Assistentin, liebevoll für ihn ausgerichtet hatte.
Der historische Ballhofplatz, mit seinen Fachwerkhäusern und dem Ballhofbrunnen, war ein malerisches Fleckchen in Hannovers Altstadt. Im Sommer und an warmen Frühlingstagen wie heute konnte man dort wunderbar im Freien sitzen und sich den guten Käsekuchen vom Teestübchen schmecken lassen.
Charlotte sah Wedel sofort. Wie ein schwarzer Berg saß er an einem der kleinen Tische, direkt an der mit wildem Wein bewachsenen Hauswand, und studierte die Karte. Na, glücklicherweise hatte er hier draußen einen Platz gefunden. Aber er war allein. Ihm gegenüber war noch ein Platz frei. Charlotte setzte sich schweigend hin und verschnaufte einen Moment.
Wedel sah sie über den Rand der Karte hinweg fröhlich an.
»Ah, da sind Sie ja. Was nehmen Sie?«
»Kaffee«, sagte Charlotte.
Wedel warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. »Kaffee«, wiederholte er dann in einem Ton, als hätte sie in München am Nachmittag Weißwürste mit Ketchup verlangt.
»Na gut, irgendeinen schwarzen Tee. Ostfriesischen von mir aus.«
»Das ist gut«, meinte Wedel, »mit Kandis und Sahne.«
»Natürlich.«
In diesem Moment kam die Bedienung und drückte Wedel zu Charlottes Erstaunen einen Kuss auf die Wange.
»Hallo, Opa«, sagte sie liebevoll, »wieder Apfelkuchen mit Sahne und den Darjeeling?«
»Hallo, Sophie. Genau, und einen Ostfriesen mit allem. Das ist übrigens Frau Wiegand von der KFI . Ich hab dir doch von ihr erzählt.«
Das junge Mädchen war, ganz im Gegensatz zu ihrem Großvater, klein und zierlich. Das blonde Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie strahlte Charlotte an.
»Oh, Sie sind das. Sie sind ja voll berühmt.«
»Ach ja?« Charlotte war erstaunt. Dass sie berühmt sein sollte, war ihr neu. Was Wedel da wohl erzählt hatte.
»Bin gleich wieder da.« Sophie verschwand mit wippendem Pferdeschwanz.
»So, Kollegin«, Wedel nahm Charlottes Hand, die sie erschrocken zurückziehen wollte, aber er hielt sie fest, »nun erzählen Sie mir mal, was Sie auf dem Herzen haben.«
»Wie bitte?« Charlotte war verwirrt und entzog ihm mit Gewalt ihre Hand. »Was soll ich denn auf dem Herzen haben? Ich hab nichts auf dem Herzen. Sagen Sie mir mal lieber, wie’s Ihnen geht. Gestern hab ich mir ziemlich Sorgen um Sie gemacht.«
Wedels Lächeln erstarb. Gut, dachte Charlotte. Angriff war eben doch die beste Verteidigung.
»Mir geht’s blendend, sehen Sie doch.« Er legte die gefalteten Hände auf seinen ausladenden Bauch und drehte Däumchen. »Wieso lenken Sie ab?«
Charlotte stieß hart die Luft aus. »Dr. Wedel, ich wollte nur von Ihnen wissen, was bei der Obduktion herausgekommen ist.«
»Wirklich? Heute ist doch Samstag. Sehen Sie sich um, alle Menschen sind unterwegs und haben Besseres zu tun, als sich um die Toten zu kümmern. Wo ist denn Ihr Liebster? Sie sollten ihn nicht immer allein
Weitere Kostenlose Bücher