Die Tote
bevor das Licht ausging?
Sie stand auf. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Obduktion abzuwarten, falls Dr. Wedel überhaupt in der Lage war, sie durchzuführen. Vorhin hatte es so ausgesehen, als würde er in den nächsten Minuten einen Herzanfall erleiden. Charlotte hoffte, dass sie sich irrte. Denn wenn Wedel nicht fit war, musste sie sich mit der ehrenwerten Frau Dr. Schneider, seiner Assistentin, herumschlagen, und die beiden Frauen mochten sich nun mal nicht.
Kurz nach elf betrat sie ihre Wohnung. Alles war dunkel und still. Erstaunlich, dachte sie, schliefen wohl schon alle. Sie ging ins Bad und schlich zehn Minuten später im Schlafshirt den Flur entlang zum Wohnzimmer. Die alten Dielen knarzten nur leise. Rüdiger musste sehr müde gewesen sein, wenn er schon schlief. Leise öffnete sie die Tür, tastete sich langsam zum Schlafsofa vor und wäre beinahe auf den Couchtisch gefallen.
»Mist«, murmelte sie, hielt sich ihr schmerzendes Schienbein und humpelte dann zur Tür zurück, um das Licht anzuknipsen. Erstaunt blickte sie auf ihr immer noch aufgeräumtes Wohnzimmer. Niemand hatte die Couch aufgeklappt. Das Bettzeug lag noch immer säuberlich zusammengefaltet auf einem Haufen in der Sofaecke. Wo war Rüdiger?
Charlotte hob ihr Handy auf, das ihr bei ihrem Zusammenstoß mit dem Tisch aus der Hand gefallen war, und kontrollierte ihre Anruferliste. Um kurz vor acht war die SMS aus dem Courtyard gekommen, und danach hatte er um neun noch mal versucht, sie zu erreichen, aber da hatte sie nicht zurückgerufen, weil sie durch den Leichenfund am Kanal abgelenkt und sofort zur Schleuse gefahren war. Seitdem hatte er sich nicht mehr gemeldet. Was sollte das? Fing der jetzt auch an wie ihr Vater?
Grimmig wählte sie sein Handy an. Ausgeschaltet. Komisch. Es war eigentlich nicht seine Art, einfach wegzubleiben, ohne ihr Bescheid zu geben. Vielleicht hatte er das Handy verloren. Trotzdem, es gab ja wohl Möglichkeiten, sie zu benachrichtigen. Gedankenverloren zog sie den Tisch zur Seite, klappte das Sofa auf, bezog es und kuschelte sich unter die Decke. Aber sie konnte nicht schlafen.
Menschenskind, dachte sie, was bist du für eine Glucke. Wenn dein Liebster um Mitternacht nicht zu Haus ist, wirst du nervös. Sie warf sich auf die andere Seite, versuchte es mit ihrem speziellen autogenen Training, das meistens Erfolg hatte. Diesmal nicht.
Es war fast zwei Uhr, als sie aufstand und zu ihrer Mutter ging, die fest schlief.
»Mama«, sagte Charlotte und musste an ihrer Schulter rütteln, um sie zu wecken, »hat Rüdiger gestern Abend angerufen?«
Mutter Wiegand blinzelte verstört.
»Rüdiger? Nein, nicht dass ich wüsste«, krächzte sie. »Warum? Ist er denn nicht da?«
»Nein«, murrte Charlotte, »schlaf weiter.«
Sie watschelte zurück ins Wohnzimmer und legte sich wieder ins Bett. Es dauerte lange, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.
SIEBEN
Um fünf Uhr am nächsten Morgen wurde Charlotte wach. Der Platz neben ihr war immer noch leer und kalt. Durch die Jalousien drang nur das fahle Licht der noch nächtlichen Stadt. Sie knipste die Stehlampe neben dem Sofa an und griff nach ihrem Handy. Nichts. Sie sprang aus dem Bett. Da stimmte doch was nicht. Sie warf ihr Notebook an, suchte die Nummern sämtlicher Krankenhäuser Hannovers heraus und begann sie abzutelefonieren. Ohne Erfolg. Nirgends war ein Rüdiger Bergheim eingeliefert worden, und einen Unfall mit Personenschaden hatte es in dieser Nacht auch nicht gegeben.
Sie wanderte ruhelos durchs Wohnzimmer und zupfte an ihrer Unterlippe. Mittlerweile war es halb sieben. Schnell ins Bad, bevor ihre Mutter aufstand. Jan würde wohl bis zum Nachmittag schlafen. Jedenfalls glaubte sie, dass zumindest der zu Hause war, denn seine Zimmertür war gestern Abend geschlossen gewesen. Wenn er nicht da war, ließ er sie offen.
Eine halbe Stunde später stand sie mit einem Becher Kaffee in der Hand am Küchentisch. Ihre Mutter war aufgestanden, hatte Kaffee gekocht und beobachtete ihre Tochter besorgt.
»Glaubst du wirklich, dass da was passiert ist? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Er ist doch so ein starker Mann und obendrein Polizist«, versuchte sie Charlotte zu beruhigen. Doch die hörte sie gar nicht, trank ihren Kaffee aus und verließ die Küche.
»Ich fahre zur Direktion. Falls Jan aufsteht, sag erst mal nichts, aber bleib am Telefon, bitte.«
»Natürlich, Kind«, rief ihre Mutter ihr hinterher, aber Charlotte war schon zur
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