Die Tote
wenig ausmalen wie die anderen. Die kam der von Hohstedt, dass Rüdiger versackt war, einfach zu nahe. Immerhin, es war möglich, aber wo hatte er dann übernachtet? Das wollte sie dann wirklich nicht wissen. Abrupt stand sie auf. Vielleicht sollte sie sich mit dem Toten am Kanal beschäftigen. Sie hatten weder einen Namen noch eine Todesursache.
Im Büro saß Maren an ihrem Platz, und Bremer war ebenfalls angekommen und telefonierte. Charlotte lächelte ihm zu, als sie an ihm vorbei zu Marens Schreibtisch ging, die verlegen ihrem Blick auswich.
»Es gibt eine Vermisstenanzeige, die auf unseren Toten passt«, sagte sie. »Vor einer Stunde hat eine ältere, total hysterische Frau angerufen und wollte, dass wir uns sofort auf die Suche nach ihrem Sohn machen. Er wäre die letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Die Beschreibung passt haargenau. Name: Eckhard Drillich, ledig; Finanzmakler; Alter: vierundvierzig, eins achtundsiebzig groß, dunkles schütteres Haar. Ich hab’s aufgenommen, ihr aber noch nichts gesagt. Dachte mir, ist besser, wenn du das machst.«
»Meine Güte«, murmelte Charlotte, »manche Leute kümmern sich überhaupt nicht um ihre Kinder, und andere beglucken sie so, dass sie mit vierundvierzig nicht mal unbemerkt eine Nacht außer Haus verbringen dürfen. Wo wohnt die Frau?«
»In Oberricklingen in der Wallensteinstraße.«
»Ja, dann sollten wir uns wohl auf den Weg machen.«
Maren verzog das Gesicht. »Muss ich wirklich mit?«
Charlotte nickte. »Ja, leider. Macht mir auch keinen Spaß.« Sie wandte sich um. »Ich geh meine Schlüssel holen.«
Bremer legte gerade auf, als sie an seinem Schreibtisch vorbeiging. »Alles veranlasst. In ein paar Stunden sind wir schlauer.«
Charlotte klopfte ihm auf die Schulter. »Danke.«
»Schon klar«, antwortete Bremer und sah Charlotte mitfühlend an. »Ich geh dann mal.«
»Okay, schönen Tag.«
Sie ging in ihr Büro und rief in der Rechtsmedizin an. Vielleicht hatte ja jemand schon eine Obduktion in die Wege geleitet. Das war in der Tat der Fall, teilte ihr einer der Medizinstudenten mit, die das Vergnügen hatten, der Obduktion beizuwohnen. Dr. Wedel habe gerade damit begonnen. Charlotte würde später noch mal anrufen, sagte sie und legte auf. Sie griff nach ihrem Handy, kontrollierte mechanisch die Eingänge und stieß einen Schrei aus. Rüdiger hatte vor zehn Minuten eine SMS geschickt. Tut mir leid, dass ich mich erst so spät melde. Musste dringend weg. Dauert noch ein paar Tage. Melde mich bald. Kuss, Rüdiger.
Sie wählte ihn sofort an, aber sein Handy war schon wieder ausgeschaltet. Verdammt! Was dachte der sich? Wieso rief er nicht an? Charlotte sank nachdenklich auf ihren Stuhl. Normal war das nicht. Es sei denn … er hatte eine andere. Aber er war doch immer zu Hause … natürlich, er war in den letzten Wochen ja auch krank gewesen. Bewegungsunfähig. Da konnte er sich nicht sonst wo rumtreiben.
Aber vielleicht stimmte das ja gar nicht. Vielleicht hatte er sich die ganze Zeit über wunderbar amüsiert. Sie war ja fast nie zu Hause, und mit der Bahn kam er überall hin. Aber irgendwie … passte das nicht zu ihm. Er war kein Heimlichtuer. Was ging da vor? Und sollte sie das Bewegungsprofil stoppen oder nicht? Sie wählte Bremers Nummer, aber der hatte vorsichtshalber ebenfalls sein Handy ausgeschaltet.
Es klopfte, und Maren betrat das Büro.
»Wollen wir?«, fragte sie und: »Geht’s dir gut? Du bist total blass.«
Aber Charlotte schien durch sie hindurchzublicken.
»Merkwürdig«, murmelte sie, »äußerst merkwürdig.«
»Was ist merkwürdig?«, hakte Maren nach.
»Ach nichts«, sagte Charlotte und stand auf, »lass uns gehen.«
Sie wollte kein Mitleid. Und das war genau das, was sie bekommen würde, weil alle dasselbe dachten, nämlich, dass Rüdiger, der Womanizer, sich eine Neue zugelegt hatte, und sie, Charlotte, damit nicht fertig wurde.
Mit Schaudern dachte sie an Ostermann. Sein Abschied würde geradezu triumphal sein. Er hatte nie ein Geheimnis aus seinem Missfallen über die Beziehung seiner beiden besten Ermittler gemacht und immer gesagt, dass so eine Beziehung, in der die Frau ihrem Freund gegenüber auch noch weisungsbefugt war, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Das war das Sahnehäubchen auf seiner Abschiedstorte. Er hatte recht behalten.
Helene Drillich empfing sie im Erdgeschoss eines mehrstöckigen, grau verputzten Gebäudes. Sie saß im Rollstuhl, wirkte aber keinesfalls hilflos.
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