Die Tote
Moment. »Hatte Ihr Sohn Feinde? Können Sie sich vorstellen, wer ihn ermordet haben könnte?«
Frau Drillichs Mundwinkel zitterten.
»Ha!«, schrie sie dann so unvermittelt, dass Charlotte zusammenzuckte. »Ich hab immer gewusst, dass es mal ein schlimmes Ende mit ihm nehmen würde«, fügte die Frau dann etwas leiser hinzu.
»Aber Helene«, protestierte die Schwester, »wie kannst du so was sagen!«
Helene Drillich rieb sich die Stirn. Dann sah sie Charlotte an. Eine alte, gebrochene Frau.
»Es ist nicht leicht für eine Mutter, das zu sagen, aber mein Sohn …« Sie blickte zu Boden, ihre Kiefer arbeiteten. »Er war genau wie sein Vater, faul … und egoistisch.«
Charlotte und Maren warfen sich einen erstaunten Blick zu. Frau Wegener putzte sich die Nase.
»Wo hat Ihr Sohn gearbeitet, und wie hat er seine Freizeit verbracht? Hatte er eine Freundin? Wer waren seine Freunde?«
Charlotte musste sich eingestehen, dass sie neugierig war auf diesen Menschen. War dieser Eckhard Drillich tatsächlich so gewesen, wie seine Mutter ihn schilderte?
Frau Drillich spielte mit ihrem Zeigestock. »Womit mein Sohn sein Geld verdient hat, weiß ich nicht. Er ist jeden Tag zur Arbeit gegangen. Hat sich als Finanzmakler bezeichnet. Aber was ist das? Ich weiß es nicht, und Reichtümer hat er ja auch keine angehäuft, sonst hätte er sich ja wohl eine eigene Wohnung leisten können. Und in seiner Freizeit hat er meistens in seinem Zimmer am Computer gesessen. Und eine Freundin«, Frau Drillich seufzte, »ja, das hätte ich gern gehabt, aber er hat keine gefunden. Ob er Freunde hatte und welche, weiß ich nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts von seinem Leben. Und jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen.«
Charlotte stand auf. »Frau Wegener, können Sie uns etwas zu Ihrem Neffen sagen?«
Frau Wegener blickte auf ihre Hände, die mit dem Taschentuch spielten, und schüttelte den Kopf.
»Können wir uns das Zimmer Ihres Sohnes mal ansehen?«, fragte Charlotte.
Frau Drillich wies mit dem Zeigestock auf den Nebenraum. »Machen Sie, was Sie für richtig halten, aber finden Sie den, der meinen Sohn umgebracht hat!«
Eckhard Drillichs Zimmer war ebenso aufgeräumt wie das Wohnzimmer und wahrscheinlich der Rest der mütterlichen Wohnung.
Die beiden sahen sich um. Der zweitürige Kleiderschrank war aus hellem Eichenholz, ebenso wie das schmale Bett und das Nachttischchen. Die Wand über dem Bett zierte ein altes Poster von Madonna. Das Zimmer wirkte auf Charlotte eher wie das eines Teenagers, wenn auch viel ordentlicher. Der Schreibtisch war aufgeräumt und leer, nur ein Notebook lag auf der dunkelgrünen Schreibtischunterlage. Neben dem Schreibtisch stand ein Ikea-Regal voller Jugendbücher und Comic-Hefte. Blickfang waren eine Batman-Büste und ein Spiderman-Modell. Im untersten Fach lagen zwei Ordner und daneben eine Packung CD -Rohlinge.
Die Schubladen waren allerdings alles andere als aufgeräumt. Sie sahen aus, wie Schreibtischschubladen eben aussahen. Kugelschreiber, alle Arten von Stiften, Klebstoffe, Büroklammern, Zettelblocks, Briefumschläge, alles lag wild durcheinander. Eine Menge Material.
Charlotte rief in der Direktion an und forderte Unterstützung von der Spusi an. Maren ließ sich von Frau Drillich noch die Handynummer ihres Sohnes geben, und als Björn Petersen – ein neuer Kommissar von der Spusi – mit einem Kollegen von der Schutzpolizei eintraf, fuhren sie zurück in die Direktion.
Nachdem Charlotte das Notebook zur Spurensicherung gebracht hatte, ging sie in ihr Büro. Von unterwegs hatte sie Kramer angerufen und ihn aufgeklärt, dass sie einen weiteren Mord zu bearbeiten hatten. Er hatte sich – wenn auch widerwillig – bereit erklärt, zu kommen und sich um den Computer des Toten zu kümmern. Normalerweise würde Charlotte Bremer diese Aufgabe zuteilen, aber heute traute sie sich nicht, ihn noch mal zu nerven. Vielleicht morgen. Sie würde anschließend in die Rechtsmedizin fahren und mit Wedel reden. Es war ein Wunder, dass er die gestrige Schwäche so schnell überwunden hatte, aber schließlich war er Arzt. Wenn der nicht für jedes Wehwehchen die richtigen Mittel fand, wer dann?
Charlotte holte tief Luft und griff nach ihrem Handy. Keine Anrufe, keine SMS . Sie versuchte erneut, Rüdiger zu erreichen. Nichts. Frustriert warf sie das Handy auf den Tisch und den Computer an, um die Posteingänge zu überprüfen.
Es klopfte. Maren trat zögernd ein und legte ein Fax auf den Tisch.
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