Die Tote
Tür raus.
Auf dem Weg zum Auto rief sie ihren Vater an, der sich natürlich nicht meldete. Sie hinterließ eine Nachricht und bat ihn dringend, sie anzurufen. Dann waren Bremer und Hohstedt an der Reihe. Sie alle hatten Rüdiger zuletzt in der KFI gesehen und seither nichts mehr von ihm gehört. Hohstedt war ziemlich genervt, als Charlotte anrief. Ob er denn nicht einmal in seinem verdammten Polizistenleben ausschlafen könne. Nein, wo Rüdiger war, wusste er nicht. War der nicht noch krankgeschrieben? Na, vielleicht war er einfach mal versackt. Charlotte konnte sich Hohstedts dämliches Grinsen vorstellen und drückte das Gespräch weg.
In der Direktion ging sie zuerst in Rüdigers Büro, das er erst vor wenigen Monaten bezogen hatte. Früher hatten Charlotte und er sich ein Büro geteilt, aber da sie immer häufiger unterschiedliche Fälle bearbeiteten, hatte er bei Ostermann ein eigenes Büro beantragt und auch bekommen. Der hatte dafür extra einen Teil des Großraumbüros abtrennen lassen.
Sein Platz war verwaist. Der Schreibtisch aufgeräumt, sein Stuhl ordentlich unter den Tisch geschoben. Sie versuchte es in ihrem eigenen Büro. Ebenfalls leer. Charlotte wusste nicht weiter. Wo sollte sie noch suchen? Bei seiner Exfrau anrufen? Nein, sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Seine frühere Nachbarin, vielleicht. Er und Grit waren früher mal befreundet gewesen. Aber sie konnte doch nicht alle seine Exfreundinnen ausfindig machen und anrufen. Und Familie hatte er keine, außer seinem Sohn. Die Mutter war seit über zehn Jahren tot, und seinen Vater hatte er nie kennengelernt.
Charlotte setzte sich an ihren Schreibtisch und überlegte. Sie hatte keine Möglichkeit, ihn polizeilich suchen zu lassen. Noch nicht. Es sei denn … sie rief Bremer an. Der saß mit seiner Frau am Frühstückstisch und anschließend wollten sie in die City und endlich für ihren Urlaub einkaufen.
»Thorsten«, bettelte Charlotte, »ich hab wirklich ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Es ist ihm bestimmt was zugestoßen. Warum sollte er sich denn nicht melden, und wo sollte er denn die Nacht verbracht haben? Der ist doch nicht plötzlich meschugge geworden.«
Bremer schmatzte. »Ja, ich find’s ja auch eigenartig, aber …«, dann flüsterte er. »Wenn ich heute nicht mit Martina einkaufen gehe, dann …«
»Thorsten, bitte, das ist ein Notfall. Es geht um deinen Kollegen. Du sollst doch nur ein Bewegungsprofil seines Handys erstellen lassen.«
»Warum machst du das nicht selber? Ist doch nur ein Anruf.«
»Weil man mir unterstellen würde, dass ich es aus persönlichen Gründen mache. Bei dir ist es doch was anderes, außerdem kennst du die Typen da.«
Sie hörte Bremer grummeln. »Ja, mir können sie auch an die Karre fahren. Bewegungsprofil ohne richterlichen Beschluss. Du bist ganz schön mutig.« Er machte eine Pause und schluckte. »Wir könnten doch zumindest bis heute Abend warten. Wird sowieso nicht so einfach sein, da jemanden zu erreichen. Ist immerhin Samstag.«
Charlotte schwieg vorwurfsvoll bittend.
»Okay«, knurrte Bremer, »ich setze Martina in der Stadt ab und komm dann vorbei. Aber ich verschwinde sofort wieder, wenn das erledigt ist, sonst macht sie mich zur Schnecke!«
»Danke«, hauchte Charlotte. »Das vergess ich dir nicht.«
»Nee, dafür sorg ich schon.« Bremer legte auf.
Charlotte legte den Kopf in die Hände. Sie konnte nicht denken.
Etwas war ihm passiert, aber was? Wo war er hingefahren, nachdem er das Courtyard verlassen hatte? Sie versuchte es erneut bei ihrem Vater.
Er nahm ab.
»Charlotte? Ich dachte, Samstag schlaft ihr lange. Was ist denn?«
Charlotte konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal lange geschlafen hatte.
»Papa«, sagte sie und fühlte sich im selben Moment wie ein hilfloses kleines Mädchen. »Hat Rüdiger gestern etwas zu dir gesagt? Wollte er noch was Bestimmtes erledigen? Wo wollte er hin?« Ihre Stimme zitterte.
»Nein, er hat eigentlich gar nichts gesagt. Warum? Ist er denn nicht zu Hause? Was ist denn passiert?«
»Er ist verschwunden«, sagte Charlotte heiser.
Als sie aufgelegt hatte, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Sie konnte nur hoffen und warten, dass Rüdiger sich doch noch meldete oder dass das Ganze ein dummes Missverständnis war. Obwohl sie sich unter diesen Umständen keine Möglichkeit ausmalen konnte, bei der ihr Freund noch heil und bei Sinnen war. Außer …
Aber diese Option wollte sie sich ebenso
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