Die Toten befehlen
mußten scheitern. Febrer erinnerte sich an das heilige Rad der Inder, das Symbol des Buddhismus, das er in Paris gelegentlich einer ihrer religiösen Zeremonien gesehen hatte. Das Rad ist das Sinnbild unseres Lebens. Wir glauben vorzurücken, weil wir uns bewegen, und bilden uns ein, Fortschritte zu machen, weil wir vorwärtsschreiten. Aber wenn dasRad eine völlige Umdrehung gemacht hat, befinden wir uns am alten Fleck.
Die Geschichte der Menschheit ist weiter nichts als eine ewige Wiederholung. Die Völker entstehen, wachsen und entwickeln sich. Die Hütte wird zum Schloß; Millionenstädte blühen auf. Dann kommen die Katastrophen, Kriege, weil das Brot nicht für alle reicht, Proteste der Besitzlosen und große Metzeleien. Die Städte entvölkern sich wieder und werden zu Ruinen. Moos wächst auf den stolzen Denkmälern. Die Metropolen versinken allmählich und schlafen Jahrhunderte unter der Erde. Ein wilder Wald steht auf der Hauptstadt untergegangener Reiche. Der Jäger streift über die Stätten, wo früher siegreiche Führer wie Halbgötter empfangen wurden, und Hirten blasen ihre Flöte auf den Ruinen der Tribüne, von denen herab man einst Gesetze verkündete. Von neuem vereinigen sich die Menschen, entsteht die Hütte, das Dorf, die Großstadt, und es wiederholt sich derselbe Vorgang in Hunderten von Jahrtausenden, wie innerhalb weniger Jahre von einer Generation zur anderen Ideen und Vorurteile wiederkehren. Das Rad! Die ewige Wiederholung!
Die Kreaturen der Menschenherde wechseln wohl den Stall, aber niemals die Hirten. Die Hirten sind stets dieselben, die Toten, die ersten, die dachten und deren ursprünglicher Gedanke einem Schneeball gleicht, der abwärtsrollt, immer größer wird und alles, was er auf seinem Wege antrifft, mit sich reißt.
Febrer verharrte lange Zeit unbeweglich auf dem Felsen. Die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in den Händen vergraben, beobachtete er wie gebanntdas sanfte Steigen und Fallen der wogenden Wasserfläche.
Der Abend brach an, als er sich endlich von seinen Gedanken losriß. Sein Schicksal mußte sich erfüllen! Er konnte nur auf den Höhen der Gesellschaft leben, wenn auch mit der Demut des Bedürftigen. Alle Wege zum Abstieg waren ihm versperrt. Vergeblich hatte er das Glück in einer Rückkehr zum einfachen, natürlichen Leben gesucht. Da die Toten nicht wollten, daß er ein Mann wäre, würde er ein Parasit sein.
Ein seltsames Wolkengebilde am Horizont fesselte seinen Blick. Es sah aus wie ein Totenkopf; auch das fahle Weiß erinnerte an die Farbe eines Schädels. Vereinzelte dunkle Wolkenflöckchen schwebten auf dem hellen Hintergrund, und die Einbildung Febrers glaubte zwei schwarze Löcher zu sehen, darunter ein gähnendes Dreieck an Stelle der verschwundenen Nase und einen breit klaffenden Riß, der die Vorstellung an ein stummes Lachen erweckte, aus einem Munde ohne Lippen.
Es war der Tod, der Herrscher der Welt, der sich ihm in bleicher Majestät zeigte, trotz blauen Himmels und grün leuchtenden Meers! Der Reflex der sinkenden Sonne schien auf diesem schaurigen Knochengesicht mit seinen schwarzen Höhlen ein bösartiges Leben hervorzurufen.
Durch die Bewegung der Wolken zerfloß das Bild nach wenigen Sekunden. Aber die Vision verfolgte Febrer weiter.
Er nahm den Befehl an: er würde die Insel verlassen.
Als die rote Sonnenscheibe in den Fluten versunken war, wurde er durch das traurige Grau der Dämmerungaus seiner Versunkenheit geweckt. Er sprang auf, ergriff seine Flinte und schlug den Weg zum Turm ein. Untenwegs machte er das Programm für die Abreise. Niemand sollte davon erfahren. Erst bei Ankunft des nächsten Postdampfers von Mallorca wollte er Pep im letzten Moment von seinem Entschluß in Kenntnis setzen.
Die Gewißheit, sehr bald seinen Zufluchtsort zu verlassen, ließ ihn bei dem Schein einer Kerze mit größerem Interesse als sonst das Innere des Turmes betrachten. Sein riesenhaft vergrößerter Schatten, der bei jedem Flackern des Lichtes schwankte, huschte auf der weißen Wand hin und her. Bald blitzten die Perlmutterschalen der Muscheln und die Metallteile der Flinte hell auf, bald lagen sie im Dunkel.
Ein Räuspern ertönte vor der Tür. Als Jaime sich der Treppe näherte, sah er auf der obersten Stufe eine in einen Mantel gehüllte Gestalt. Es war Pèp.
»Das Abendessen«, sagte er trocken und hielt ihm ein Körbchen hin. Jaime nahm es in Empfang, ein wenig betroffen über die Wortkargheit des Bauern. Aber auch er
Weitere Kostenlose Bücher