Die Toten der Villa Triste
hatte, in die Schaufenster zu blicken oder nach Gesichtern Ausschau zu halten, die mir auffällig oft begegneten. Ich hätte ihr von der Hintertür erzählen können, hätte ihr klarmachen können, dass ich mit den Schlüsseln einen Fehler gemacht haben musste. Oder mit den Fensterläden. Ich hätte ihr erklären können, wie unvorsichtig ich gewesen war.
Aber ich tat es nicht. Denn in Wahrheit fürchtete ich mich. Vor der Nemesis. Vor dem, was sie sagen und was sie unternehmen würde. Ich hatte Angst, dass ich mit meinem Leichtsinn den Pakt gebrochen hatte und dass Issa mich darum mitsamt ihrem Kind verlassen würde. Dass sie mich allein zurücklassen würde. Schlimmer noch, ich hatte Angst, dass ich damit ihre Gefühle für mich abtöten würde.
So blieb ich liegen und ließ sie weiterreden.
»Wir waren so vorsichtig«, sagte sie. »Wir haben niemandem etwas verraten. Niemand außer uns wusste Bescheid, und wir waren alle dort. Und niemand außer uns. Und wir waren … wir hatten so vieles gemeinsam durchgemacht, wir wären füreinander gestorben. Immer wieder muss ich daran denken, wie sie in diesem Graben lagen. Jeder Einzelne …«
Sie zählte ihre Finger ab, so wie damals, als sie noch ganz klein gewesen war und zu zählen gelernt hatte. Neben mir im Bett liegend, hielt sie die Hände in die Luft und wiederholte wie eine Litanei: »Du warst da, und ich war da und Rico und Carlo und Mama und Papa und …«
Sie hörte auf zu zählen, aber ihre Hände verharrten über der Decke, die Finger ins Mondlicht gereckt. Als würde sie etwas zu greifen versuchen.
»Alle sind tot«, sagte sie. »Diese Stille, Cati. Sie will mir nicht mehr aus dem Kopf. Als das Klopfen aufhörte, hinter der Mauer. Und ich sehe sie immer noch. Papa und Rico und Carlo und die Arme und Beine … Sie wollten, dass ich es weiß.«
Sie sah mich im Dunkeln an.
»Darum fuhren sie mit mir hinauf, Cati, in die Hügel. Sie wollten, dass ich es weiß. Ich sollte es mit eigenen Augen sehen und erkennen: dass einer aus unserer Mitte uns verraten hat.«
26. Kapitel
Wie versprochen, erwartete ihn Signora Grandolo bereits. Vor einer halben Stunde am Telefon hatte sie kein bisschen überrascht geklungen, Palliotis Stimme zu vernehmen. Stattdessen hatte sie nur kurz angemerkt, wie sie sich freue, von ihm zu hören, anschließend schweigend gelauscht und zuletzt erklärt, dass sie liebend gern in ihrem Büro bleiben und mit ihm alle Unterlagen durchgehen würde, die ihre Organisation aus der Villa Triste übernommen hatte. Nachdem der Empfang nicht mehr besetzt war, würde sie, hatte sie angefügt, im Eingangsbereich des Gebäudes auf ihn warten, damit er nicht erst die Nachtklingel betätigen und im Regen stehen musste. Die Wettervorhersage hatte nichts von Regen gesagt, aber als er die Cavicallis verlassen hatte, hatte es angefangen zu schütten.
Jetzt öffnete er die Tür des Dienstwagens, den er angefordert hatte, und lief geduckt zum Eingang. Kleine Kaskaden ergossen sich über die Stufen und sammelten sich auf dem Gehweg zu Pfützen. Er trat in eine und durchnässte seine Socken. Signora Grandolo hielt ihm die schwere Glastür auf und winkte ihn herein.
»Das gießt nicht mehr aus Eimern«, sagte sie. »Sondern aus Badewannen. Ich habe den Florentiner Winter immer gehasst.«
Die Glasscheiben schlossen sich hinter ihnen. Ihre Schritte klackerten wie Morsezeichen, als er ihr über den Marmorboden zum Aufzug folgte. Außer ihnen schien im ganzen Gebäude keine Menschenseele zu sein. Was in diesen Büros auch gearbeitet wurde, war offenbar um Punkt siebzehn Uhr erledigt.
»Noch einmal vielen Dank«, sagte Pallioti, als sich die Aufzugtüren mit einem Ping öffneten.
Er konnte nicht glauben, dass sie an einem verregneten Abend nichts Besseres oder zumindest Interessanteres zu tun hatte, als einen orientierungslosen Polizisten durch ein Dateienarchiv zu lotsen. Natürlich hätte er jemanden aus Enzos Team anfordern und darauf bestehen können, dass man alles stehen und liegen ließ, um seiner wilden Idee nachzujagen. Aber das hätte Tage gebraucht. Und er hätte damit alle verärgert. Obendrein wusste er nicht einmal, wonach er suchte. Möglicherweise nach gar nichts.
Doch das bezweifelte er. Das nagende Gefühl hatte sich nicht gelegt. Eigentlich sollte er genauso zufrieden sein wie der Bürgermeister. So optimistisch wie Enzo, der in diesem Augenblick durch diese Regenwolken in Richtung Bari flog, voller Zuversicht, dass sie in spätestens
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