Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
vermutete Mehran.
Ihn würden sie dagegen belohnen. Ihn enger in die Gemeinschaft aufnehmen. Im Gegensatz zu ihr hatte er bewiesen, dass man sich auf ihn verlassen konnte. Dass er für seine Familie einstand, aber gleichzeitig auch richtig handelte, wenn es darauf ankam.
Er hatte das Gefühl, als hätte er wie ein Schmarotzer vom Kampf seiner Mutter profitiert, als hätte er ihr die Kraft geraubt, sich damit vorwärtsbewegt und sie zurückgelassen. Weshalb sie sich ab sofort in verschiedene Richtungen bewegten. Er vorwärts, sie rückwärts.
Doch mitten in dieser Bewegung gab es auch immer noch Melikas Lüge. Wer sollte ihr jetzt nachgehen? Wer sollte die Wahrheit herausfinden?
Niemand.
Das war kein gutes Gefühl.
Ganz und gar nicht.
Als er das Zentrum erreicht hatte, blieb er stehen. Er sah einige ältere Jungs von seinem Gymnasium vor der chemischen Reinigung herumlungern. Sie hoben die Hand zum Gruß, doch er hatte keine Lust auf ihre Gesellschaft. Er nickte ihnen nur kurz zu und ging weiter. Levan konnte er nirgends entdecken, aber eigentlich wollte er ihn inzwischen auch gar nicht mehr sehen. Er ging zu Melikas Haus. Blieb bei dem kleinen Spielplatz davor stehen. Betrat ihn und setzte sich auf die große Schaukel, die zu benutzen ihm sein Vater immer verboten hatte. Obwohl er genörgelt und gebettelt und manchmal sogar geweint hatte, war Hamid hart geblieben. Die ist für die größeren Kinder, hatte er immer gesagt. Es wurde schon fast zu einem Ritual zwischen ihnen. Er wollte sie ausprobieren, Hamid sagte nein, erst, wenn du älter bist. Er quengelte, aber Hamid gab nie nach.
Vorsichtig setzte Mehran sich auf die Schaukel. Heute wirkte sie ganz und gar nicht mehr besonders, sie bestand lediglich aus einem großen Gummireifen, der an zwei Ketten hing. Hamid hatte ihm nur erlaubt, die Schaukel daneben zu benutzen, bei der ein zusätzlicher kleiner Reifen unter dem großen befestigt war, damit man nicht hindurchfallen konnte. Die matten Stahlketten an seiner Hand fühlten sich genauso kalt an wie damals, als er klein war. Er begann zu schaukeln. Das Gestell knarrte rhythmisch, als er schneller wurde.
Vor und zurück. Vor und zurück.
Mit jedem Mal, das sein Körper nach vorn schwang, schien eine neue Frage in seinem Kopf aufzutauchen.
Warum hatte Melika gelogen, als sie bei ihnen zu Hause gewesen war?
Zurück.
Was wusste sie über den Mann namens Joseph?
Zurück.
Warum war sie so nervös geworden, dass sie Shibeka und ihn an Memel verraten hatte?
Zurück.
Er musste das Richtige tun. Er konnte nicht einfach zu Melika hinaufgehen. Das wäre ungeschickt. Damit riskierte er nur, dass sie wieder zu Memel und den anderen rennen und ihn verpetzen würde.
Vielleicht sollte er Saids Laden einen Besuch abstatten. Er war mehrmals mit seinem Vater da gewesen. Manchmal hatte Hamid dort ausgeholfen, damit er ein wenig beschäftigt war. Said hatte der Laden gehört, zusammen mit zwei Cousins von Melika. Rafi und – und wie hieß der andere noch? Turyalai, wenn er sich richtig erinnerte. An Rafi konnte er sich besser erinnern. Er war immer lustig gewesen und hatte Mehran Lollis geschenkt. Mehran hatte schon lange nicht mehr an sie gedacht. Sie wohnten nicht in Rinkeby, sondern in Vällingby, hatte Shibeka erzählt. Jedenfalls hatten sie damals dort gewohnt. In den ersten Jahren waren sie manchmal bei Melika zu Besuch gewesen. Mehran wusste, dass sie ihr auch ein wenig Geld gegeben hatten, um ihr zu helfen. Aber das war lange her. Und seit sich Melika und seine Mutter kaum noch trafen, hatte er die Cousins auch immer seltener gesehen. Aber vielleicht wussten sie etwas. Said war fast immer mit ihnen zusammen gewesen.
Mehran wartete, bis die Schaukel stillstand, und stieg ab. Dann sah er noch einmal zu Melikas Wohnung hinauf, ehe er zur U-Bahn ging.
Jetzt, da sie seine Mutter – mit seiner Hilfe – zum Schweigen gebracht hatten, konnte nur noch er die Wahrheit herausfinden.
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D ie erste Ellinor wohnte im Grönviksvägen 107 in Nockeby. Vanja gab die Adresse ins GPS ein, sie konnte sich nicht erinnern, jemals in Nockeby gewesen zu sein. Im dichten Verkehr auf dem Weg dorthin überlegte sie, wie sie den verschiedenen Frauen gegenübertreten sollte. Sie würde nicht preisgeben, dass sie Polizistin war, so viel stand schon einmal fest. Aber was sollte sie dann sagen? So wenig wie möglich, beschloss sie schließlich, als sie auf den halbkreisförmig angeordneten Parkplätzen vor den
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