Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
verlieren? War das Ganze ihr Fehler? Warum konnte sie nicht so sein wie alle anderen Mütter? Warum konnte sie nicht …
Plötzlich stand Bella hinter ihr. Ursula hatte sie nicht kommen sehen.
«Hallo, Mama.»
Ursula drehte sich um und versuchte zu lächeln, aber es schien ihr nicht zu gelingen. Bella wurde sofort ernst und setzte sich.
«Was ist denn passiert? Du siehst ja ganz blass aus.»
Und Ursula begann zu erzählen. Bemühte sich um eine objektive Darstellung, darum, Mikael nicht die Schuld zu geben. Sie schilderte die Trennung so, als wäre sie ein gemeinsamer Beschluss gewesen. Etwas, auf das sie sich wie erwachsene Menschen geeinigt hätten. Vermutlich klang es nicht ganz glaubwürdig. Aber Ursula hatte das Gefühl, dass dies der richtige Weg war. Sie durfte Bella nicht dazu zwingen, sich für einen von ihnen zu entscheiden. Denn sie wusste genau, wen ihre Tochter dann wählen würde.
Gemeinsam spazierten sie zurück in die Stadt. Mutter und Tochter. Ursula konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt einen Spaziergang gemacht hatten. Ihre Tochter war jetzt groß. Klug, erwachsen und begabt. Ihre Nähe war so gegenwärtig, dass die Anspannung, die Ursula zuvor gespürt hatte, nachließ und sie den Moment genießen konnte. Sie hatte das Gefühl, als wären sie einander nie näher gewesen als jetzt.
Auch als sie am Gleis vor dem Zug standen, der Ursula zurück nach Stockholm bringen sollte. Kurz vor dem Bahnhof hatte Bella sie gefragt, ob sie nicht über Nacht bleiben wolle, sie könne in ihrem Zimmer ein Gästebett aufstellen. Eine Sekunde lang überlegte Ursula, ob sie Bella damit überraschen sollte, mit ja zu antworten. Doch dann wagte sie es nicht. Bisher war das Treffen über alle Erwartungen gut verlaufen, und sie wollte nicht zu aufdringlich wirken. Sie schob ihre Arbeit vor, versprach jedoch, bald wiederzukommen und Bella zu besuchen. Sehr bald.
«Wirst du denn damit zurechtkommen?», fragte Ursula und unterdrückte den Impuls, ihrer Tochter über die Wange zu streichen.
«Ja, natürlich.»
Bella beugte sich vor und umarmte sie. Auch daran, wann das zuletzt vorgekommen war, konnte sich Ursula nicht erinnern. Es war jedenfalls lange her.
«Ich bin nicht so überrascht, wie du vielleicht denkst», sagte Bella dann.
Ursula erstarrte. Eine leise Stimme in ihrem Inneren riet ihr, anstelle einer Antwort einfach nur zu lächeln. Zu lächeln und in den Zug zu steigen. Das gute Gefühl beizubehalten. Aber sie hörte nicht auf die Warnung.
«Wie meinst du das denn?»
«Na ja … ich spreche ja ab und zu mit Papa …»
Bella sah zur Seite, offenbar unangenehm berührt von der Situation. Ursula versuchte zu begreifen, was Bellas Antwort zu bedeuten hatte. Ihr fiel nur eine Erklärung ein.
«Wusstest du, dass er eine andere hatte?»
«Nein. Natürlich nicht.»
«Aber du wusstest, dass er vorhatte, mich zu verlassen?»
«Nein, nein, auf keinen Fall. Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung.»
«Aber du hast eben gesagt, du wärst nicht überrascht. Das bedeutet, dass du damit gerechnet hast.»
«Mama …»
«Dass du verstehen kannst, dass er mich verlässt, weil ich jemand bin, mit dem … ja, was eigentlich? Jemand, mit dem man nicht leben kann?»
«Mama, nein, das habe ich nicht gemeint. Du verstehst mich falsch.»
Ursula sah, wie Bella die Tränen in die Augen stiegen. Sie streckte die Hand nach Ursula aus, doch die wich zu ihrer eigenen Verwunderung einen Schritt zurück, drehte sich mit einem letzten Blick um und stieg in den Zug.
«Bitte bleib doch», rief Bella ihr hinterher. «Nimm den nächsten Zug, dann können wir über alles reden!»
Doch sie war nicht geblieben. Hatte nicht den nächsten Zug genommen. Hatte nichts gewagt. Tief in ihrem Inneren sagte ihr eine leise Stimme nämlich, dass Bella völlig richtiglag.
Ursula war weiterhin wie gewohnt zur Arbeit gegangen, hatte aber niemandem etwas erzählt. Was sollte sie auch sagen? Dass ihr Mann sie verlassen hatte? Niemals. Sie war noch nie eine gewesen, die über einer Tasse Kaffee und einem Gebäckteilchen vor anderen ihre Probleme und Gedanken ausbreitete. Der Kollege, der ihr am nächsten stand, war Torkel, ihr Chef und Liebhaber, aber ihm konnte sie sich auf keinen Fall öffnen. Er würde alles falsch interpretieren und sich Hoffnungen machen, dass aus ihrer Affäre mehr würde. So lange Mikael Teil ihres Lebens gewesen war, hatte auch Torkel sich gegen eine engere Beziehung mit ihr gesperrt. Wenn er wüsste, dass Mikael
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