Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
jeden Fall etwas anfangen. Also tat sie so, als hätte sie auch den Rest verstanden. Sie spürte, dass das wichtig war, damit er sie nicht einfach abfertigte.
«Gut.»
«Können wir uns treffen?»
«Jetzt?»
«Nein, nicht jetzt. Aber …»
Es wurde still, und Shibeka glaubte zu hören, wie er in einem Kalender blätterte.
«Am Montag um elf Uhr. Passt das?»
Passen. Sie überlegte. Ihre Arbeitskollegen sagten manchmal «das passt schon». So ähnlich wie «geht das», dachte sie. Das verstand sie. Aber plötzlich begann sie zu zittern.
«Ich weiß nicht.»
Der Mann schwieg kurz, ehe er fortfuhr: «Wissen Sie nicht, oder können Sie nicht?»
«Ich weiß nicht. Glaube ich.» Shibeka war unsicher, wie sie es erklären sollte. Sie wollte schon, aber es kam ihr verkehrt vor. «Meinen Sie, nur Sie und ich? Die sich treffen?»
«Es sei denn, Sie hätten gern einen Dolmetscher dabei. Aber das scheint mir nicht nötig zu sein. Sie sprechen ja sehr gut Schwedisch.»
«Danke, ich gebe mir Mühe.»
Sie zögerte. In Lennart Stridhs Welt war es nichts Besonderes, wenn eine alleinstehende Frau einen ihr fremden Mann traf. In diesem Land nahm niemand daran Anstoß, und sie lebte nun einmal in diesem Land. Shibeka holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen.
«Wo?»
«Es gibt ein Café gegenüber von Åhléns am T-Centralen. Bolero heißt es.»
Ein Café. Natürlich. Die Schweden tranken ständig Kaffee. Eigentlich hätte sie sich einen Stift und einen Block herauslegen sollen, um sich Notizen zu machen. Aber Café und irgendwas mit B konnte sie sich merken.
«Wie heißt das Café noch?»
«Bolero. Beim Åhléns City.»
«Danke.»
«Um elf Uhr?»
«Um elf Uhr. Ja, gut.» Sie kam sich albern vor, weil sie alles wiederholte, was der Mann sagte, aber er schien es nicht einmal zu bemerken.
«Dann sehen wir uns dort. Bis dann!», sagte er und beendete das Gespräch.
Shibeka saß für einen Moment schweigend da, ehe sie selbst auflegte. Das war besser gelaufen, als sie es sich je erhofft hätte.
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E s war dieselbe Wohnung – und doch nicht. Alle Dinge standen dort, wo sie immer standen. Auch die Möbel waren noch an ihrem üblichen Ort. Die Holzdielen vor der Küche knarrten nach wie vor, wenn sie hinausging, um zu frühstücken. Sogar die Pflanzen in den Fenstern wuchsen weiter, als wäre nichts geschehen. Aber Ursula fühlte sich nicht länger zu Hause. Es kam ihr so vor, als befände sie sich an einem fremden Ort, obwohl sie hier jeden Winkel kannte, jeden einzelnen Quadratzentimeter. Vielleicht vermisste sie die Geräusche oder dass sein Anzug nicht mehr achtlos über dem braunen Sessel lag oder die Kaffeemaschine nicht mehr eingeschaltet war, wenn sie nach Hause kam. Sie wusste es nicht. Es ärgerte sie, dass sie sich in ihrer eigenen Wohnung fremd fühlte, und ihr logisches Ich versuchte tapfer, Widerstand zu leisten und das Geschehene begreiflicher zu machen, indem sie es verharmloste.
So groß ist der Unterschied doch gar nicht.
Die meisten Geräusche waren ohnehin aus der Wohnung verschwunden, als Bella nach Uppsala zog, und damals hatte es sie auch nicht gestört, versuchte sie sich vorzugaukeln. Und in den letzten Jahren war die Beziehung zwischen Mikael und ihr ohnehin ins Leere gelaufen, redete sie sich ein. Wenn man es ehrlich betrachtete, hatten sie sich auseinandergelebt. Immerzu trennten sich Paare, zogen auseinander und fanden neue Partner. Es war nicht ungewöhnlich, was passiert war.
Doch alle Logik der Welt konnte die schmerzliche Einsicht nicht verdrängen, die sie innerlich aufwühlte. Es war nicht die Einsamkeit, die sie quälte. Damit konnte sie umgehen. Es war die Art und Weise, wie es geschehen war. Dass er sie verlassen hatte. Es war diese Unmöglichkeit, an der sie so schwer zu schlucken hatte. Er hätte für sie kämpfen sollen.
Statt einfach zu verschwinden.
Nicht Mikael.
Wenn einer von ihnen alles verlassen durfte, dann sie.
Und dennoch war er es gewesen. Ohne den Versuch einer Rettung. Anscheinend auch ohne Reue. So schnell und so entschieden, wie sie es ihm nie zugetraut hätte.
Er hatte gesagt, dass er seine Beziehung zu der anderen Frau unterbrochen habe. Unterbrochen, nicht beendet. Sich eine Pause genommen habe, weil er zunächst alles mit Ursula klären wolle, ehe er einen neuen Weg einschlage. Doch eigentlich hatte das nicht ganz gestimmt. Er wollte nichts klären, er wollte es ihr nur erzählen, sich vielleicht ein wenig entschuldigen und
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