Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
fertig gewesen. Mit sich selbst zufrieden, wollte er nur noch schnell im Internet die neuesten Nachrichten überfliegen, ehe er nach Hause fuhr.
Gleich auf der ersten Seite war es die oberste Meldung: «MASSENGRAB IM FJÄLL.»
Viel stand nicht in dem Artikel. Zwei Wanderinnen waren im wahrsten Sinne des Wortes über ein Grab gestolpert. Mehrere Leichen, die schon lange dort lagen. Alexander suchte bei weiteren Online-Medien. Dieselben Informationen, nur anders aufbereitet. Nirgendwo stand Genaueres darüber – wer die Opfer waren, um wie viele Tote es sich handelte und seit wann genau sie schon dort verscharrt lagen. Alexander lehnte sich zurück und ließ die Schultern sinken, die er unbewusst bis zu den Ohren hochgezogen hatte. Er atmete aus, versuchte, sich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen.
Man hatte sie gefunden.
Oder?
Doch, sie mussten es sein. Wie viele Massengräber sollte es in Jämtland schon geben?
Er holte sich eine Tasse Kaffee. Konnte jetzt nicht nach Hause. Trank den Kaffee am Fenster stehend, während er über die Drottninggatan blickte, und setzte sich wieder an den Computer. Er surfte eine weitere Stunde im Internet, um zu sehen, ob die Artikel aktualisiert würden, doch nichts geschah. Vermutlich kämen erst morgen neue Erkenntnisse hinzu. Die Frage war, was er jetzt tun sollte. Anrufen, Bericht erstatten? Wahrscheinlich wussten sie es bereits. Doch wenn er nichts von sich hören ließ, wurde ihm das womöglich als Nachlässigkeit ausgelegt. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass es ein Fehler sein konnte, Kontakt aufzunehmen, aber womöglich ein noch größerer, es bleibenzulassen.
Also stand er wieder auf und ging zum Fenster. Es hatte zu regnen begonnen. Die wenigen Passanten, die jetzt noch zu sehen waren, beschleunigten ihre Schritte und duckten sich gegen den zunehmenden Wind. Alexander holte sein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer. Nach dem dritten Läuten meldete sich jemand.
«Ja?»
Mehr sagte die Frau nicht. Im Hintergrund lief Musik. Alexander erkannte die Melodie. Lykke Li, «Possibility». Auch im Büro lief ständig Lykke Li.
«Hier ist Alexander. Söderling», ergänzte er vorsichtshalber, denn seit ihrem letzten Telefonat war viel Zeit vergangen.
«Ja, ja, ich weiß.»
Bei jedem anderen Gespräch hätte Alexander nun eine höfliche Frage nach dem Befinden gestellt. Doch ihrer knappen Antwort entnahm er, dass es nicht angebracht wäre. Also kam er sofort zur Sache.
«Hast du schon die Nachrichten gesehen?»
«Was hätte ich da sehen sollen?»
«Man hat im Jämtlandsfjäll ein Massengrab entdeckt.»
«Nein, das hatte ich nicht gesehen.»
«Steht überall im Netz.»
«Aha.»
Alexander schwieg, sah zu, wie die Regentropfen das Fenster hinabrannen und ein Muster bildeten, das an ein Adergeflecht erinnerte. Er erwartete eine Folgefrage wie beispielsweise, was genau die Zeitungen schrieben, aber es kam keine.
«Wir können wohl davon ausgehen, dass sie es sind», verdeutlichte Alexander, vermutlich unnötigerweise. Wie gesagt, wie viele Massengräber sollte es in Jämtland schon geben?
«Aha.»
Auch diesmal kam nicht mehr von ihr. Es war deutlich, dass sie nicht vorhatte, das Gespräch voranzubringen. Sie schien nicht sonderlich interessiert, fast ein wenig zerstreut. Allmählich dämmerte Alexander, dass es doch ein Fehler gewesen war, sie anzurufen.
«Ich werde versuchen herauszufinden, ob die Polizei weiß, wer sie sind», fuhr er fort, um ein wenig Initiative zu zeigen.
«Und wenn es so wäre?»
«Dann glaube ich trotzdem nicht, dass es ein größeres Risiko darstellen kann. Alles ist äußerst … professionell gelaufen.»
«Also, was unternehmen wir?» Die Frau machte eine kurze Pause. Dann fügte sie hinzu: «Oder besser gesagt du …»
«In der jetzigen Situation erst einmal nichts.»
«Nichts?»
«Ja, das ist wohl das Beste.»
«Und warum hast du dann angerufen?»
«Ich wollte nur … Ich dachte, du würdest wissen wollen, dass sie das Grab gefunden haben.»
«Mich interessiert, ob wir ein Problem haben. Haben wir ein Problem?»
«Nein», antwortete Alexander.
«Dann will ich auch nichts davon wissen.»
Erneute Stille. Völlige Stille, sogar Lykke Li war verstummt. Und das Gespräch beendet. Alexander steckte sein Handy ein und starrte mit leerem Blick auf die Straße.
Ob sie ein Problem hatten?
Nein, noch nicht, aber Alexander war sich sicher, dass es nicht lange auf sich warten lassen würde.
[zur
Weitere Kostenlose Bücher