Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
dann verschwinden.
Zu ihr.
Amanda.
Er war sehr vernünftig gewesen, sanft, aber trotzdem bestimmt. Hatte ihr keine Chance gelassen, einen Weg zurück zu seinem Herzen zu finden, diese Tür war nun für immer verschlossen. Er hatte ihre Hand genommen, um sie zu trösten, als er ihr das Unausweichliche erzählte. Sie hatte das Gefühl, dass er Details vermied, die sie verletzen konnten, und gleichzeitig nicht vor der Wahrheit zurückschreckte.
In diesem Moment hatte Ursula ihn geliebt.
Oder es zumindest geglaubt. Es war ein Gefühl, das sie nie zuvor erlebt hatte. Stark und widersprüchlich. Als gäbe es plötzlich einen neuen Buchstaben im Alphabet, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte.
Sie hatte schreien wollen. Sachen nach ihm werfen. Ihn küssen. Ihn anflehen. Doch zu nichts von alledem war sie imstande gewesen. Sie verspürte Liebe, Wut und Erstaunen in einer absurden und vollkommen lähmenden Kombination. Daher hatte sie einfach nur dagesessen und genickt. Seine Hand genommen und gesagt, sie würde es verstehen, obwohl sie in Wirklichkeit nichts verstand.
Eine Weile hatte er noch mit ihr gewohnt, doch seine Sachen waren Stück für Stück verschwunden und seine Besuche immer kürzer geworden, bis sie eines Tages ganz aufhörten. Er war ausgezogen.
Hatte sie verlassen.
Mikael und sie hatten schon viele Herausforderungen bewältigen müssen. Seine Suchtpersönlichkeit und ihr Unvermögen zu Nähe waren die größten Hindernisse, die sie hatten überwinden müssen. Früher hatten sie immer eine Lösung gefunden. Den richtigen Moment, in dem sie sich wieder nah sein konnten. In dem ihre Verschiedenheit sich zu Puzzleteilen formte, die wieder zusammenpassten.
Doch diesmal war es anders.
Er sei verliebt, sagte er.
Zum zweiten Mal in seinem Leben. Diesmal in eine Frau, die ihm genauso viel zurückgab, wie sie bekam.
Ursula wusste, dass sie dagegen chancenlos war.
Also ließ sie ihn ziehen.
In den Tagen nach dem Gespräch mit Micke hatte Ursula die Wohnung nicht mehr verlassen. Hatte sich nicht dazu aufraffen können. Nach dem ersten Schock gab es so viele Fragen und Dinge, um die sie sich kümmern musste. Die größte Angst bereitete ihr die Frage, wie sie es Bella erzählen sollten, und vor allem, wer von ihnen es ihr sagte. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr hatte Ursula das Gefühl, dass sie selbst mit ihr darüber reden musste. Sonst konnte es leicht passieren, dass sie nach ihrem Mann auch noch ihre Tochter verlor. Bella war immer ein Vaterkind gewesen. Micke und sie hatten über all die Jahre stets problemlos wieder zueinandergefunden. Natürlich war Ursula ebenfalls da gewesen. Wenn auch ein wenig außen vor. Ab und zu.
Wenn sie einmal nicht arbeitete.
Wenn sie und Bella nicht wieder einen ihrer Konflikte austrugen, in die sie so leicht gerieten.
Wenn Ursula es selbst wollte und sich Mühe gab. Nur dann.
Immer zu ihren Bedingungen.
Sie hatte versucht, diesen letzten Gedanken so lange wie möglich zu verdrängen, aber nun kam er in der leeren, fremden Wohnung zu ihr zurück.
Plötzlich begriff Ursula, dass sie ein neues Verhältnis zu Bella aufbauen musste. Eines, das authentischer war. Ein eigenes, bei dem sie nicht im Kielwasser von Mikael schwamm. Sie konnte sich nicht länger hinter ihm verstecken.
Jetzt war sie allein.
Diejenige zu sein, die der Tochter die Wahrheit erzählte, wäre vielleicht schon ein guter Anfang. Jedenfalls glaubte sie das. Ursula rief Mikael an und bat darum, dass sie selbst mit der Tochter sprechen durfte. Er stimmte sofort zu, hielt es sogar für eine gute Idee.
Also stand sie im Alter von fünfzig Jahren vor einer Aufgabe, die sie nie besonders gut gemeistert hatte.
Ihrer Tochter als Mensch zu begegnen.
Als Mutter.
Wahrhaftig.
Es hatte sie einen Tag Überwindung gekostet, ehe sie es gewagt hatte, Bella anzurufen.
Sie hatten sich in einem Café getroffen, das von der Universität aus zu Fuß zu erreichen war. Bella hatte es vorgeschlagen, eines dieser modernen, amerikanisch anmutenden Lokale mit riesigen Kuchen und Kaffee in Pappbechern. Ursula war schon früh da, bestellte sich einen Latte macchiato, setzte sich ans Fenster und sah hinaus. Betrachtete die Autos, die Menschen, die vorbeieilten. Es war später Vormittag, und das Café war halb leer. Ursula nippte an dem heißen Kaffee und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln, die sich in alle Richtungen zerstreuten. Doch wenn es ihr gelang, ging es immer um eine Sache: Würde sie Bella
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