Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
oft genug erlebt.
«Fangen wir mit Ihnen an», sagte er und zückte seinen Stift. «Sie und Ihr Mann kamen also Ende 2001 nach Schweden?»
«Ja. Mit den Kindern. Sie waren damals zwei und vier Jahre alt.»
«Aus Afghanistan?»
Shibeka sah ihn an. Aus seinem Mund klang das alles so einfach. Als wären sie einfach in ein Flugzeug gestiegen und ein paar Stunden später in Schweden gelandet. Für einen kurzen Moment wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Auffanglager in Pakistan, wohin sie zuerst geflüchtet waren. Der Gestank, die Enge, die Angst und das Weinen der Kinder waren noch immer allgegenwärtig. Das Zelt, in dem es nachts eiskalt war und tagsüber unerträglich heiß. Hamid, der sie schließlich davon überzeugte, dass sie unbedingt von dort wegkommen mussten. Sich weiter durchschlagen. Die Schlepper, die sie dann dafür bezahlten, sie in den Iran zu bringen. Die entsetzliche Fahrt auf dem Lastwagen über Berge und durch Steinwüsten. Tage und Wochen, die ineinanderflossen. Ihr war im Gedächtnis geblieben, wie sie hinter der Fahrerkabine eingeklemmt gesessen und Eyer und Mehran krampfhaft an sich gepresst hatte. Ja, eigentlich waren die Schmerzen in ihren Armen, die sie vom Halten der Kinder gehabt hatte, ihre einzige Erinnerung an die Flucht. Der Rest war nur ein Wirrwarr aus verschiedenen Bildern. Aber den Schmerz würde sie nie vergessen. Sie streckte ihre Arme ein wenig, um sicher zu sein, dass er für immer verschwunden war.
«Ja. Aber wir kamen erst nach Griechenland.»
«Sie meinen, Griechenland war ihr Ersteinreiseland?»
Ersteinreiseland. Was für ein Wort. Es gehörte zu den ersten Wörtern, die sie auf Schwedisch gelernt hatte. Das erste Land in der EU, das man als Flüchtling erreichen und in das man deshalb auch zurückgeschickt werden konnte.
«Aber dann kamen Sie nach Schweden?», fragte Lennart Stridh, als sie nicht antwortete.
Shibeka nickte.
«Wir hatten hier Freunde und Verwandte. Deshalb wollte Hamid nach Schweden.»
«Aber Ihr Asylantrag wurde abgelehnt?»
«Nicht gleich. Aber es gab viele Probleme.»
Sie verstummte. Lennart beugte sich etwas vor. An dieser Stelle konnte sich bereits entscheiden, ob er die Sache besser abblies oder nicht.
«Hamid bekam eigentlich nie Asyl, oder? Und Sie und Ihre Kinder erst einige Jahre später – nachdem er verschwunden war?»
Shibeka seufzte, sie wusste schon, worauf diese Frage abzielte. So reagierten auch die Leute in den Behörden immer wieder. Sie war das so leid.
«Er verschwand nicht, weil er nicht bleiben durfte. Er verschwand auch nicht, damit wir bleiben durften.» Shibeka hob ihre Stimme, und zum ersten Mal begegnete ihr Blick Lennarts. «Ihr Schweden sagt immer, dass er deshalb verschwand. Aber das stimmt nicht!»
Lennart betrachtete sie. Die vorsichtige und nachdenkliche Frau war mit einem Mal einer anderen gewichen. Ihre Augen funkelten vor Energie. In diesem Moment glaubte Lennart, ihre innere Stärke sehen zu können, und plötzlich fand er ihren jahrelangen Kampf um ihren Mann glaubhaft. Vor ihm saß eine Frau, die nie aufgab, ganz gleich, wie groß der Widerstand war.
«Ich behaupte das ja auch gar nicht. Aber die Polizei und die Einwanderungsbehörde sagen es. Dass Hamid kurz nach einem Termin bei der Einwanderungsbehörde verschwand, bei dem er erfuhr, dass Sie wahrscheinlich abgeschoben würden.»
Shibeka spürte, dass sie protestieren musste. Mit aller Kraft. Sie schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste.
«Sie kennen Hamid nicht. Er hätte uns nie verlassen, seine Jungen nie ohne einen Vater aufwachsen lassen. Niemals. Es muss etwas passiert sein.»
Fast flehend sah Shibeka den Mann auf der anderen Seite des Tisches an, der nach einem kurzen Schweigen seinen Stift hinlegte und sie mit ehrlicher Neugier anblickte.
«Und was, glauben Sie, ist passiert?»
«Ich weiß es nicht.»
«Aber Sie denken, dass es etwas mit diesem Mann zu tun hat, von dem Sie mir schon erzählt haben? Der ein paar Tage nach Hamids Verschwinden plötzlich auftauchte?»
«Ja.»
«Von dem Sie meinen, er wäre Polizist?»
«Er klang wie ein Polizist. Aber er trug keine Uniform.»
«Und er machte keine Angaben zu seiner Person?»
Shibeka sah ihn fragend an.
«Angaben?»
«Ähm, er sagte Ihnen nicht, wie er hieß und wer er war?»
«Nein.»
«Also haben Sie keine Ahnung, von wo oder in welchem Auftrag er kam?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Er fragte wie ein Polizist.»
«Was fragte er denn?»
Shibeka dachte nach. Wo sollte sie
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