Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
anfangen? Es waren so viele Fragen gewesen. Alle hatten sich um Hamid und seinen Cousin gedreht. Sie sah den Reporter an, und ihr war klar, dass das, was sie jetzt sagte, wichtig war. Er musste begreifen, dass der Schwede in der dunklen Jacke, der damals zu ihr gekommen war, etwas bedeutete. Dass er wichtig war. Er war auf der Jagd nach irgendetwas gewesen. Etwas, das sie ihm nicht hatte geben können, selbst wenn sie gewollt hätte.
«Er erkundigte sich vor allem nach Hamid», antwortete sie leise. «Und nach seinem Cousin Said. Ob sie gesagt hätten, wohin sie gehen wollten, ob sie etwas mitgenommen hätten, ob sie jemanden getroffen hätten, ob sie in den Wochen davor verreist wären und über … über …»
Sie hielt mitten im Satz inne. Dieser andere, auf den ihre Gedanken immer wieder zurückkamen. Er und der Schwede in der dunklen Jacke, beide hatten sie irgendetwas mit Hamids Verschwinden zu tun. Davon war sie überzeugt.
«Und über Joseph.»
Lennart zückte seinen Stift und notierte den Namen.
«Wer ist das?»
«Ich weiß es nicht. Er kannte Said.»
«Und Said verschwand zur selben Zeit wie Ihr Mann.»
Sie nickte. «Said traf sich ziemlich oft mit Joseph. Hamid mochte ihn nicht. Das hat er mir gesagt.»
«Aber Sie haben diesen Joseph nie getroffen oder mehr über ihn erfahren?»
«Nein, nichts. Ich habe es versucht, aber ich konnte ihn nicht finden.»
Lennart war mit einem Mal unsicher, was er glauben konnte. Obwohl die Frau, die vor ihm saß, glaubwürdig wirkte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, warum sie lügen sollte. Sie versuchte nun schon so lange herauszufinden, was ihrem Mann zugestoßen war. Länger, als man es tun würde, wenn man sich eigentlich sicher war. Aber dass sie nicht wusste, was passiert war, bedeutete nicht unbedingt, dass dieser Fall etwas für ihn und die Redaktion war. Hamid Khans Verschwinden konnte viele Gründe haben. Und sie mochten traurig und tragisch für die Familie sein, aber der Fall musste sich deshalb noch lange nicht für eine investigative Reportagereihe im Fernsehen oder für die Zuschauer eignen.
In jedem Fall weckte jedoch etwas an der Ausstrahlung der Frau sein Interesse. Und an dieser Geschichte war ganz sicher etwas faul. Nicht an der Version von Shibeka Khan, er glaubte ihr, sondern vielmehr an der Reaktion der Behörden. Sie schienen etwas zu verschweigen. Seine kleine Recherche nach dem Eintreffen des Briefs hatte zu nichts geführt. Im Gegenteil. Zunächst hatte er bei der Einwanderungsbehörde angerufen und war wie immer vom einen zum nächsten Sachbearbeiter weiterverbunden worden, ehe er an den richtigen gelangte. Dieser bestätigte ihm, dass Hamid einige Tage nach einem Termin verschwunden war und man ihn deshalb verdächtigte, untergetaucht zu sein. Es lagen keine aktuellen Aufzeichnungen zu dem Fall vor. In der letzten Aktennotiz war vermerkt, dass man die polizeilichen Ermittlungen abwartete. Sie war im August 2003 hinzugefügt worden. Seither war nichts geschehen, abgesehen davon, dass man Hamids Frau Shibeka Khan und ihren beiden Söhnen im Jahr 2006 eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hatte.
Anschließend hatte Lennart bei der Polizei angerufen. Dort hieß es, die Ermittlungen hätten ergeben, dass der Mann vermutlich im Zusammenhang mit einer bevorstehenden Ausweisung verschwunden war, aber darüber hinaus könne man die Angelegenheit nicht kommentieren, denn sie unterliege der Geheimhaltung. Und das war der eigentliche Grund dafür, dass Lennart Stridh hier mit Shibeka saß. Er konnte sich an keinen einzigen Fall erinnern, bei dem eine sogenannte «unkontrollierte Ausreise», wie das Untertauchen von Asylbewerbern im Behördenjargon hieß, zur Verschlusssache geworden war.
Hinzu kam, dass Said Balkhi, Hamids Cousin, zur selben Zeit verschwand. Er war einige Jahre früher nach Schweden gekommen und hatte bereits im Jahr 2000 eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Am Fridhemsplan betrieb er ein eigenes Geschäft, in dem Hamid ab und zu jobbte. Am Abend vor ihrem Verschwinden im Jahr 2003 hatte Hamid zu Hause angerufen und gesagt, er breche jetzt auf. Die beiden hatten das Geschäft abgeschlossen und waren seither wie vom Erdboden verschluckt. Saids Frau erwartete ihr erstes Kind. Er hatte also keinerlei Grund zu verschwinden. Im Gegenteil. Die Geschichte stimmte hinten und vorn nicht. Das spürte Lennart immer deutlicher.
Er beschloss, auf seinen Instinkt zu vertrauen. Obwohl es die Redaktion Zeit und Ressourcen
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