Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
entschuldigte sich, dass sie ihnen kein besseres Wetter bieten konnte. Mit den Koffern in den Händen folgten sie ihr im Eiltempo zu einem Minivan, der draußen wartete. Sie verließen Frösön und fuhren am Storsjön entlang, bis sie auf die E14 gelangten.
Während sie in Richtung Storulvån fuhren, berichtete Hedvig, was sie wusste. Viel war es nicht. Eine Wanderin war auf einen Bergvorsprung hinausgegangen, der vermutlich vom Regen unterspült gewesen war. Ein Teil der Erdmasse hatte sich gelöst und ein Skelett freigelegt. Nachdem die Kollegen zum Fundort gekommen waren, hatten sie um die sterblichen Überreste herum weitergegraben und noch einen Schädel entdeckt. Und schlussendlich hatten sie mehrere nebeneinanderliegende Leichen gefunden. Hedvig hatte alle nur denkbaren Register und Archive durchforstet, aber in den letzten fünfzehn Jahren war nirgends eine Gruppe von sechs Personen vermisst gemeldet worden.
«Wissen Sie, wie lange sie schon dort liegen?»
«Nein. Und sie sind alle noch dort. Wir haben noch nicht begonnen, sie zu untersuchen. Wir wollten auf Sie warten.»
Ursula nickte anerkennend. Es kam immer wieder vor, dass sich die Beamten draußen in den Polizeibezirken beweisen wollten. Selbst etwas erreichen wollten, bevor die Reichsmordkommission auftauchte. Hier schien man anders zu denken. Richtig zu denken, wenn es nach Ursula ging. Man hatte eingesehen, dass der Fall vermutlich zu kompliziert war, und sofort Verstärkung gerufen, nicht erst, als man mit seinem Latein am Ende war.
«Und wissen Sie, wie die sechs gestorben sind?», fragte sie und sah Hedvig im Rückspiegel an.
«Fast alles deutet darauf hin, dass sie erschossen wurden. Aber sicher können wir erst sein, wenn wir sie untersucht haben.»
Jennifer saß schweigend hinten neben Billy und genoss die Situation einfach nur. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie – in einem Minivan zusammen mit der Reichsmordkommission. Sechs Leichen. Ermordet. Im Fjäll begraben. Dies war etwas ganz anderes als Geschwindigkeitskontrollen oder Raufereien von Betrunkenen am Freitagabend. Dafür war sie Polizistin geworden: Mörder. Spuren und Indizien. Schwierige Ermittlungen. Jagd und Spannung. Sie platzte beinahe vor Euphorie. Am liebsten hätte sie es sofort allen erzählt: Jennifer Holmgren, Reichsmordkommission.
Sie konnte kaum still sitzen vor Aufregung. Billy wandte sich ihr zu. Jennifer wusste, dass sie lächelte, aber sie konnte nicht anders.
«Worüber freust du dich denn so?»
Sie sagte es, wie es war: «Ich bin einfach nur so wahnsinnig glücklich, hier zu sein!»
Vanja schielte nach hinten zu ihrer Vertreterin. Fast erwartete sie, dass Jennifer ihren Satz noch um ein an Billy gerichtetes «mit dir» ergänzte. Es machte den Eindruck, als hätten sich die beiden sofort gefunden. Schon im Flugzeug hatten sie nebeneinander gesessen, gelacht und sich darüber ausgetauscht, welchen Twitter-Accounts sie folgten und Ähnliches, was Vanja nicht interessierte. Binnen weniger Stunden hatte Jennifer dafür gesorgt, dass Vanja sich alt fühlte. Sie richtete ihren Blick wieder nach vorn. Jetzt musste sie sich aber wirklich zusammenreißen. Sie würde die Gruppe verlassen, und es war nur begrüßenswert, dass Billy gut mit ihrer Nachfolgerin auskam. Sie war nicht eifersüchtig, aber … es war eben doch ihr Platz. Jennifer würde ihren Platz einnehmen. Natürlich räumte sie ihn freiwillig, aber dennoch. Zum ersten Mal, seit sie sich in das Abenteuer FBI gestürzt hatte, hatte sie das Gefühl, dass sie nicht nur zu einem anderen Ort aufbrach, sondern auch etwas zurücklassen musste. Etwas Gutes.
In Enafors bogen sie links ab und fuhren kurz vor Handöl rechts in ein Tal hinein. Auf beiden Seiten erhob sich das Gebirge mit seinen warmen Herbstfarben im Regen. Der schmale Weg verengte sich immer mehr, bis sich plötzlich vor ihnen ein großer Parkplatz auftat und sie am Ziel angekommen waren. Dahinter ein großes, längliches Haus mit Anbauten in alle Richtungen. Die eine Schmalseite endete in einem achteckigen, an ein Silo erinnernden Auswuchs. Graue Dächer, überall. Auf den ersten Blick schien das Haus zu achtzig Prozent aus Dach zu bestehen. Sebastian wusste nichts über Architektur, aber er wusste, wann er etwas hässlich fand. Und dieses Haus war hässlich. Funktional vielleicht, als Fjäll-Station, aber verdammt noch mal nicht schön.
Das Grüppchen eilte hinein und wurde an der Rezeption von einem Mann und einer Frau begrüßt, die sich
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