Die Toten, die niemand vermisst: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
erschöpfter, als sie sich fühlte. «Spätestens morgen.»
Er hatte aufgelegt. Shibeka blieb einen Moment mit dem stummen Telefonhörer in der Hand stehen. Dann ging sie in die Küche zurück. Setzte sich an den Küchentisch und betrachtete das neue Handy, das eben noch eine Vielfalt von Möglichkeiten bedeutet hatte. Jetzt war es nur noch ein falscher Prophet.
Was hatte sie eigentlich geglaubt? Natürlich musste ihr Plan früher oder später mit ihrer Umwelt kollidieren. Wahrscheinlich war das auch nötig, wenn sie eine Antwort auf die Frage haben wollte, die nun schon so lange in ihrem Kopf kreiste. Für ihren Willen, die Wahrheit zu erfahren, musste sie einstehen, auch wenn es schmerzlich war, und zwar unabhängig davon, was die Menschen um sie herum dachten. Ihr selbst war es im Grunde egal, den meisten war sie vermutlich ohnehin schon viel zu … schwedisch. Aber um ihre Jungen machte sie sich Sorgen. Die beiden sahen in vielen der älteren Afghanen ein Vorbild, für sie waren die Leute wie eine Verbindung zu ihrer alten Heimat und zu ihrem Vater. Shibeka wollte nicht, dass ihr Handeln die Beziehung zu ihren Kindern zerstörte.
Was sollte sie tun?
Sie überlegte, was Hamid ihr wohl geraten hätte. Er hatte immer so klug reagiert, besonders, wenn sie Zweifel hatte. Seine Worte und seine Gedanken fehlten ihr. Auch jetzt hätte sie sie dringend gebraucht.
Es klingelte an der Haustür, und in der nächsten Sekunde hörte sie den Schlüssel im Schloss. Sie wusste, dass es Mehran war. Er machte es immer so: Erst klingelte er, dann schloss er selbst auf. Eyer klingelte dagegen so lange Sturm, bis sie die Tür öffnete. Mehran war anders. Als wollte er sagen: Hallo, hier bin ich, aber ich komme allein zurecht.
Sie ging zur Tür und sah ihm entgegen. Groß, schmal und froh, zu Hause zu sein. Er stellte seinen Rucksack in den Flur und zog die Schuhe aus.
«Und, wie war der Sporttag?»
«Geht so. Levan und ich haben uns verirrt.»
«Musstet ihr denn lange nach dem richtigen Weg suchen?»
«Eine knappe Stunde vielleicht. Aber dummerweise hatte ich mein Essen in der Umkleidekabine vergessen. Ich hatte einen Riesenhunger.»
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und steuerte auf die Küche zu.
«Was ist das denn?», fragte er verwundert, als er den Handykarton auf dem Küchentisch sah.
«Ein Telefon», antwortete Shibeka wahrheitsgemäß.
«Für wen?»
«Für mich.»
Mehran bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht ganz zu deuten wusste, ehe er das Handy in die Hand nahm und es betrachtete. Billig, ein älteres Modell. Er verlor sofort das Interesse und legte es wieder zurück.
«Überleg dir genau, wo du es benutzt», sagte er dann, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Den Jugendsender, wie immer. Shibeka sah ihm nach. Mehran war so groß geworden. Er war dabei, ein Mann zu werden. Manchmal erschreckte es sie, wie schnell die Zeit verging.
«Ich mache dir einen Chai», rief sie ihm hinterher.
«Danke», drang seine Stimme aus dem Wohnzimmer, vermischt mit den Geräuschen aus dem Fernseher. Shibeka füllte den Wasserkocher, stellte ihn an und hielt mitten in der Bewegung inne. Was machte sie da eigentlich gerade? Sie fühlte sich wie eine schlechte Frau. Eine, die Geheimnisse hatte und heimlich etwas hinter dem Rücken derer ausheckte, die sie liebte.
Das war nicht richtig.
Ganz und gar nicht.
So konnte es nicht weitergehen, es war ein gefährlicher Weg. Die Lügen würden immer größer werden und mit ihnen auch der Abstand zu den Jungen.
Sie traf eine Entscheidung. Holte tief Luft und ging hinüber zu Mehran, betrachtete ihn, wie er auf dem Sofa saß. Die Worte auszusprechen, fiel ihr leichter, als sie gedacht hätte.
«Ich mache da gerade etwas, von dem ich dir erzählen muss.»
Mehran blickte sie neugierig an, und sie wurde erneut von der Einsicht überrascht, wie groß er geworden war. Er war kein Junge mehr, und sie senkte respektvoll ihren Blick, setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Er musste es erfahren, und sie würde auf seinen Rat hören.
«Es geht um deinen Vater», sagte sie.
Sie spürte, wie Mehran fast unmerklich zusammenzuckte. Er hatte nie gern über seinen Vater gesprochen, seit der verschwunden war. Darüber war Shibeka lange beunruhigt gewesen, hatte aber nach einer Weile verstanden, dass er auf seine Weise trauerte. Wie Männer es eben taten.
Hamid.
Der Verschwundene und doch immer Gegenwärtige.
Shibeka begann zu erzählen. Und sie erzählte alles.
Der
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