Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
ich für dich tun.
Die Pressekonferenz dauert eine halbe Stunde. Am Ende scheint Sernagiotto noch größer geworden zu sein. Er schüttelt viele Hände und verteilt Visitenkarten, dann verfügt er sich Richtung Stadt mitsamt einem Videorekorder, der seinen Moment des Ruhms für immer festgehalten hat.
Die ungewöhnliche Versammlung löst sich ebenso schnell wieder auf, wie sie sich gebildet hatte. Die Journalisten stellen ihre Berichte zusammen, diktieren oder schreiben Artikel. Bei Alver kehren der Wein und die Karten wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Stammgäste zurück.
Mattia Bondi bleibt an Ort und Stelle stehen, den Blick fest auf die Fenster des Kommissariats gerichtet. Der Nebel erlaubt es ihm nicht zu sehen, dass er Auge in Auge mit Roberto steht. Entsprechend fassungslos ist er, als ein Fenster sich öffnet und man ihm bedeutet, er solle hereinkommen. Als er Manzini an der Tür begegnet, ist schwer zu sagen, wer von den beiden überraschter ist. Auf dem Stuhl, auf dem eben noch Sernagiotto gesessen hatte, rutscht der Journalist hin und her, ohne eine Position zu finden, in der er sich wohlfühlen würde.
Es vergehen quälende Sekunden des Schweigens. Dann greift Roberto an.
»Diese Ermittlung ist überaus delikat, ich bin sicher, dass sogar du das kapierst. Versuch nicht, sie zu behindern.«
» Commissario, ich …«, winselt Bondi.
»Stellvertretender Kommissar. Herr stellvertretender Kommissar.«
»Herr stellvertretender Kommissar«, hebt Mattia Bondi erneut an, »indem Sie einen Reporter bedrohen, verletzen Sie das Recht auf Information.«
Der ist ja ein noch größeres Arschloch, als ich geglaubt habe. Und ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet. Die Stimme wird lauter. »Und du würdest dieses Recht respektieren, wenn du das Foto des misshandelten Leichnams eines Kindes veröffentlichst?«
Bondi läuft dunkel an. Die dicken Brillengläser beschlagen. Als er antwortet, macht er Roberto nach: »Herr stellvertretender Kommissar, ich habe die Fotos geschossen, hatte aber noch nicht entschieden, ob ich sie der Zeitung zur Verfügung stelle. Ich muss sagen, dass dieser wohlfeile Angriff von Ihnen mich fast dazu verleiten könnte. Sicher, ich verstehe Ihre Nervosität. Sie hätten die Leute aus Case Rosse vor Gefahren schützen sollen, stattdessen …«
Roberto steht auf und beugt sich drohend über den Journalisten. »Gefahren? Welche Gefahren denn?«
Bondi versucht sich wegzuducken, gibt aber nicht klein bei. »Für uns, die wir von hier sind, stellen die massenhaften Zugereisten in den großen Palazzi an der Via Belvedere eine Bedrohung dar. Ich weiß das, ich bin von hier. Ganz zu schweigen von den Zigeunerlagern.«
Das Gespräch nimmt eine überraschende Wendung. »Die Zigeunerlager bei Modena?«
»Genau. Wohnwagen, Dreck, Kinder, die zum Stehlen erzogen werden …«
»Aber das ist fünfzig Kilometer von hier entfernt! Was tun dir denn diese armen Leutchen? Und ja, in der Via Belvedere wohnen ungefähr fünf fremde Familien, aber die verdienen ihr Brot auf anständigere Art und Weise als du!« Er spürt förmlich in seinem Nacken die Neonazibande vom Bahnhof Termini, die Kälte der Klinge an seinem Hals und direkt danach die Wärme des Blutes. »Du machst dir doch keine Vorstellung davon, was aus so einem idiotischen Rassismus heraus alles passieren kann.«
»Ich nehme Ihre Meinung zur Kenntnis. Aber es sind Menschen ermordet worden in dem Dorf, in dem Sie für Ordnung und Sicherheit eintreten sollten. Und alle denken, dass der Mord das Werk von Leuten von außerhalb ist, von gente ed fòra .«
Roberto zeigt mit dem Finger auf das Gesicht des Journalisten. »Du müsstest allmählich mal mit dieser absurden Unterscheidung zwischen Leuten von hier und von außerhalb Schluss machen. Die Einwohner von Case Rosse sind ebenso zu niederträchtigen Taten fähig wie alle anderen auch.«
»Also denken Sie nicht, dass die Mörder von außerhalb kommen?«, fragt Bondi, während er Notizblock und Stift hervorzieht. Roberto ist zu sehr in Wut, um zu bemerken, was das bedeutet.
»Jedenfalls ist es sehr wahrscheinlich, dass der Mörder heute Morgen bei Alver einen Kaffee getrunken hat!«
Bondi notiert den Satz, dann steht er ganz langsam auf. Er lächelt. »Vielen Dank für das Gespräch, Herr stellvertretender Kommissar. Sie werden meinen Artikel morgen lesen.« Türen knallend verlässt er das Haus.
Roberto setzt sich wieder hin. Einige Minuten bleibt er regungslos sitzen,
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