Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
starrt ein paar Sekunden darauf.
Tatzeitpunkt und Opfer sind bekannt. Aber der Ort? Er ermordet sie in Bologna und transportiert sie dann direkt vor seine Haustür? Und wie? Mit dem Traktor? Und das Motiv? Was soll das sein?
Wütend knüllt er das Papier zusammen und wirft es auf den Boden. Ihm ist, als würde er ersticken, als sei er im Wasser, und unsichtbare Hände würden versuchen, ihn unter die Oberfläche zu ziehen, Meter um Meter hinab in dunkle Wasser.
3. JANUAR 1995, DIENSTAG
DIE WÖLFE KOMMEN
1
N ach kurzem und unruhigem Schlaf versucht Roberto die Zeit herumzubringen. Er geht hinaus und steigt die Treppe hinunter, geht ins Zimmer und wieder raus, trinkt Kaffee, als wäre es Wasser. So schafft er es bis halb acht. Statt hier den Hamster im Rädchen zu spielen, kann ich genauso gut laufen gehen.
Eine dicke Wolkenschicht kündigt an, dass der erste Dienstag des Jahres 1995 wieder einer der unzähligen düsteren Tage ohne Schnee werden würde. Er läuft schlecht, über einen vom Wind gepeitschten Weg, weit weg vom Monte della Libertà, den er, verschluckt vom Nebel, nicht einmal sieht. Häufige Spurts und unvermittelt langsame Abschnitte, in den Ohren Lucio Battisti.
Bei der Rückkehr über die Piazza hält er den Blick fest auf den Boden geheftet. Er hat keine Lust, die Erleichterung in den Augen der Leute aus dem Dorf zu sehen, die aus der Messe kommen, um dann in der Wirtschaft einzukehren. Er erinnert sich an Manzinis erleichterten Aufschrei in Guerzonis Haus. Und was, wenn es noch nicht zu Ende ist?
Viel zu viele Stunden liegen vor ihm, um sich allein dieser Frage zu stellen. Nach der Dusche beschließt er, die einzige Person anzurufen, die ihm helfen kann. Eine Person, die weiß, wie wichtig es ist, einen Fall nicht nur zu lösen, sondern auf die richtige Lösung zu kommen.
Dieses eine Mal ist Questore Bernini gezwungen, still zuzuhören, während Roberto mit Nachdruck seinen Zweifeln Ausdruck verleiht.
»Serra, hören Sie mir zu, ohne mich zu unterbrechen«, schafft er es schließlich zu antworten. »Als Ihr Vorgesetzter sage ich Ihnen, lassen Sie die Sache auf sich beruhen. Der Fall ist gelöst und abgeschlossen …«
»Aber Questore …«
»Ruhe, hab ich gesagt!« Bernini hustet drei, viermal, wütend, dann fährt er fort. »Jetzt schicken wir den Questore mal weg, und es spricht Augusto mit dir. Ich höre da auch ein paar Misstöne in Sernagiottos Sinfonie. Die Partitur ist zu komplex für ihn.«
Eine angenehme Wärme löst die Kälte ab, die der Lauf in seinem Körper hervorgerufen hat und die auch das heiße Wasser nicht hatte vertreiben können.
»Also bleibt der Fall offen?«
»Du hörst mir nicht zu. Ich wiederhole: Der Fall ist geschlossen. Die Gönner von Hört-hört stehen schon in den Startlöchern, um Belobigungen und Lorbeeren zu fordern. Du wirst, sagen wir mal, informell weitermachen. In der Freizeit. In Case Rosse wird es dir daran mit Sicherheit nicht mangeln.«
Roberto ist verblüfft. »Wer sind denn diese so mächtigen Gönner, die eine der Spitzen der Polizei daran hindern könnten, eine Ermittlung weiterzuführen?«
Bernini lacht auf und hustet. Hustet und lacht. »Der Name Sernagiotto sagt dir wohl nichts? Denk mal scharf nach …«
Roberto versteht. Der Veneto-Akzent hätte ihn auf die richtige Spur bringen müssen. »Der Justizminister …«
»Bingo! Ein alter Christdemokrat, der den Korruptionsuntersuchungen der Mani pulite mit heiler Haut entkommen ist. Alle sind sie gestürzt, er aber ist immer noch da. Und der Onkel von Hört-hört, ganz dicke mit dem Innenminister, dem, wie sogar du dich erinnern wirst, die Polizei unterstellt ist. Die Regierung ist zurückgetreten, aber irgendwo taucht er wieder auf, darauf kannst du dich verlassen. Er ist ein Magier, politisch gesprochen. Dein kleiner Freund da sammelt Erfahrungen in Bologna, aber irgendwo wird schon irgendein wichtiger Sessel für ihn freigehalten. Vorausgesetzt, er landet nicht mit dem Hintern in der Scheiße, weil er irgendeinen Blödsinn verzapft. Vielleicht aber bin auch ich hier am Ende. Das hängt auch von dir ab.«
Robertos Magen krampft sich zusammen. »Riskieren Sie das nicht für mich. Ich habe keine verlässlichen Spuren. Wo auch immer ich hingehe, habe ich den Eindruck, als müsste ich umkehren.«
Ein Hustenanfall geht der rauen Stimme voraus, die durch die Telefonleitung verzerrt wird. »Früher, bevor ich mich entschieden habe, Bürokrat zu werden, war ich ziemlich gut darin,
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