Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
mit den offenen Läden. Von Nahem entpuppt sich der abblätternde Putz als dumpfes Grün.
Durch die von Regen und Staub verschmutzten Scheiben erleuchten die Scheinwerfer des Geländewagens einen Teil eines großen Raumes, der das gesamte Erdgeschoss einnimmt. Zu ihrer Rechten befindet sich ein großer, geschwärzter Kamin. In der Mitte ein weißer Tisch mit nur einem Stuhl davor. Vor der Wand ein alter Kohleherd. An den Wänden sind Schwarz-Weiß-Fotografien aufgehängt. Er kann nur ein Porträt erkennen: Benito Mussolini im Profil.
Das verlassene Haus eines verlassenen Mannes.
»Gehen wir rein«, murmelt er.
»Bräuchten wir dafür nicht einen Durchsuchungsbefehl?«
»Ja, bräuchten wir, aber wir haben keine Zeit. Was auch immer da drin auf uns wartet, wir werden es sein, die es entdecken. Jetzt.« Er spricht nicht über die schwarze Unruhe, die ihn ergriffen hat. Guerzoni ist geflohen. Oder noch schlimmer.
Roberto lässt sich die Beretta geben, sieht nach, ob sie gesichert ist, und knallt den Knauf mit Wucht gegen die Fensterscheibe. Der Lärm scheint sich in der Luft zu vervielfältigen. Sie warten ein paar Sekunden ab. Nichts geschieht.
Vorsichtig, um sich nicht zu schneiden, steckt er die Hand hindurch und öffnet das Fenster von innen. Er gibt die Waffe zurück. Mit einem Sprung gelangt er auf die Fensterbank und ist im nächsten Augenblick im Inneren des Hauses. Er sieht sich wachsam um. Ein dumpfer Plumps hinter ihm. Manzini ist ihm gefolgt.
Er findet den Schalter und schaltet das Licht ein. Die unpersönliche Ärmlichkeit des Raumes und der Geruch nach Holz und aufgewärmten Suppen erzählen von der Einsamkeit desjenigen, der hier wohnt. Im Spülbecken auf der dem Kamin gegenüberliegenden Seite ein einzelner Teller und ein einzelnes Glas. Der Espressokocher für eine Person steht auf einem Regalbrett, neben dem Glas für die Graupen, das geöffnet ist.
Es ist kalt. In der Asche ist kein Funken Glut mehr zu sehen. Roberto hält eine Hand an die Küchenhexe, auf der eine kleine Pfanne steht, die zur Hälfte mit einer zähflüssigen, weißlichen Flüssigkeit gefüllt ist. Keine Spur von Wärme.
Es ist, als würden wir hier jemandes Schlaf stören. Er bemüht sich, langsam und tief zu atmen, durch die Nase. Ein Läufertrick, der ihm Klarheit bringt.
»Guerzoni?«, ruft er, sich der Nutzlosigkeit seines Versuchs bewusst.
Sie gehen um den kleinen Tisch herum, der wie alle anderen Küchenmöbel ebenfalls in gebrochenem Weiß gestrichen ist, und wenden sich der einzigen Tür zu. Sie gehen an den aufgehängten Fotografien vorbei. Mussolinis Gesicht lenkt Robertos Aufmerksamkeit auch auf die anderen Bilder. Fünf Landschaften in Schwarz-Weiß, Dörfer, die durch Bombenangriffe zerstört sind, lange Militärkolonnen. Vier Fotos sind aus Case Rosse, was an dem Glockenturm erkennbar ist, der sich stolz der Katastrophe entgegenstellt; das fünfte zeigt ein anderes Dorf. Die Bildunterschrift besagt: Zocca.
Manzini probiert den Türgriff, der dem Druck nachgibt. Roberto zeigt auf die Pistole und bedeutet ihm, ihm Deckung zu geben. Der Kollege nickt und umfasst die Waffe mit beiden Händen.
Roberto zählt langsam mit den Fingern bis drei und reißt die Tür auf. Ein Treppenabsatz. Alles dunkel und still, auch hier. Mit angehaltenem Atem tritt er ein. Er findet den Lichtschalter an der Wand. Ein schwaches Lämpchen erleuchtet ausgetretene Stufen. Er folgt ihnen mit dem Blick.
Es kostet ihn Kraft, zu verstehen. Vielleicht weigert sich auch das Gehirn, zu verarbeiten, was die Augen aufgenommen haben. »Nein«, flüstert er.
»Nein, nein, nein!«, schreit er.
Manzini ist sofort an seiner Seite, die Pistole im Anschlag. Roberto blickt ihn mit schmerzerfüllten Augen an. Er drückt die Waffe herunter und sinkt auf der untersten Stufe zusammen. Er zeigt nach oben. »Du brauchst sie nicht.«
Sie haben den Tod vor Augen, wieder. Der Geruch liegt in der Luft. Manzini stößt einen Schreckensschrei aus.
Ein Mann baumelt von einem Dachbalken. Das Gesicht ist blau angelaufen, die Augen weit aufgerissen. Aus dem halb offenen Mund quillt die bläuliche Zunge. Vom Fuß der Treppe aus kann man nicht viel sehen, aber es gibt keinen Zweifel: Es handelt sich um Berto Guerzoni. Die Schlinge, die ihm beinahe den Kopf abgerissen hat, ist der Grund, warum er nicht geantwortet hat.
Roberto zwingt sich, wieder aufzustehen. Er versucht, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren als das durch den Todeskampf entstellte Gesicht.
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