Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
Ein Gesicht, das sich über das eines anderen Mannes legt, den er während des Tanzes gesehen hat, der auf dieselbe Weise an der Eiche am Prà grand gehängt worden war.
Er befielt seinen Beinen, die Treppe hinaufzugehen. Auf der ersten Stufe sieht er auch den Oberkörper des Erhängten. Auf der zweiten erscheinen die Arme, die neben dem Körper baumeln. Die rechte Hand umklammert etwas.
Die letzten Stufen nimmt er im Laufschritt.
11
D er Nachtdienst in der Poliklinik Sant’Orsola ist einer der schwierigsten, die Alice jemals mitgemacht hat. Sie kämpft damit, zwischen einer Behandlung und der nächsten nicht einzuschlafen. Wieder aufzuwachen, wenn der nächste Patient kommt, wäre ein titanisches Unterfangen.
Es ist nicht nur die Müdigkeit, auch wenn sie das gern glauben würde. Roberto hat sich hinter ihre schwächer gewordene Abwehr geschlichen. Wieder, ohne überhaupt irgendetwas zu tun, der verdammte Kerl.
Nach zehn Uhr abends schaut sie mehr oder weniger alle drei Minuten auf die Zeiger der Uhr, die an der Wand der Notaufnahme hängt. Schließlich gibt sie auf. Aus der Tasche ihres Kittels zieht sie ein zerknittertes Stück Papier, auf dem sie die Telefonnummer notiert hat. Sie ist sich absolut bewusst, dass sie eine Dummheit begeht, und vor allem, dass sie nicht die geringste Ahnung hat, was sie sagen will. Dennoch ruft sie das Kommissariat in Case Rosse an. Niemand hebt ab.
Ein Teil von ihr fühlt sich erleichtert, sagt ihr, dass es so besser ist. Ein anderer beklagt sich. Dieser Schritt hat sie so viel Nerven und Energie gekostet, ein Jammer, dass er vergebens war. Ganz zu schweigen von dem ärgerlichen Gedanken, der sie jetzt beschäftigt: Wer oder was hätte Roberto dazu veranlassen können, das Haus zu verlassen? Die Eifersucht kitzelt sie. Er könnte eine feste Beziehung haben, eine Freundin. Oder nur ein Abenteuer wie sie. Was wäre schon dabei?
In der Kitteltasche befindet sich noch ein anderer Gegenstand, der mit jeder Sekunde schwerer zu werden scheint. Kaum in der Notaufnahme angekommen, hatte sie in der Arzttasche nach dem Stethoskop gesucht. Und hatte die Zwille gefunden. Sie hatte vergessen, sie wieder auf diese Wiese zurückzulegen. Etwas in ihr hält daran fest, dass dieses Stück Holz auf irgendeine Weise mit den drei Leichen zu tun hat.
» Santapolenta, wenn ich nur wüsste, wie …«, sagt sie. »Was würdest du tun? Würdest du zu ihm gehen, um es ihm zurückzugeben?«
Sie sagt das laut. Der einzige Kollege in der Notaufnahme sieht sie befremdet an, sie macht eine beschwichtigende Handbewegung. Im Stillen beschimpft sie sich als Idiotin. Und antwortet sich selbst. Aus welchem Grund auch immer – sie muss Roberto wiedersehen. Wenn es schlecht laufen sollte, wäre sie endlich eine schwere Last los. Wenn es aber gut läuft … Daran will sie lieber nicht denken.
»Morgen geht’s nach Case Rosse«, verkündet sie dem Holzstück. Und dem Kollegen, der nur den Kopf schüttelt.
12
E s ist drei Uhr nachts.
Roberto liegt mit offenen Augen ausgestreckt auf dem Bett. Er starrt in die Dunkelheit. Der letzte Funken Energie ist weg. Der Fall ist abgeschlossen.
Eigentlich müsste er tiefen Frieden mit sich selbst empfinden. Er ist frei. Frei, von Neuem zu verschwinden. Frei von dem Versprechen, das er Bernini gegeben hatte. Frei auch von Alice. Stattdessen hat er das Gefühl zu ersticken, fühlt sich als Gefangener von etwas, das er nicht zu begreifen vermag.
Zum hundertsten Mal durchlebt er den Augenblick, in dem er die Fensterscheibe einschlägt, ins Haus springt und den erloschenen Kamin sieht, Mussolinis Profil, die anderen Fotos. Dann die geschlossene Tür, die Treppe. Bis hin zu dem schrecklichen Anblick der Leiche, die ihn mit blutunterlaufenen Augen anstarrt. Der fette Körper, der leblos an einer primitiven Schlinge aus gebogenem Eisendraht baumelt. In der Spezialeinheit hat er gelernt, dass die häufigste Todesursache beim Erhängen ein Bruch der Halswirbelsäule und nicht Ersticken ist. Ein schneller Tod, mit wenig Leiden.
Berto Guerzoni jedoch war ein anderes Schicksal beschieden gewesen. Er wies alle Anzeichen für eine Strangulation auf. Die Augen schienen nur durch puren Zufall noch in ihren Höhlen zu stecken. Der aufgerissene Mund, der nach Luft geschnappt hatte, war von schaumigem Speichel umgeben. Auf einer Seite hing die Zunge heraus, blau und angeschwollen, wie auch die Lippen und das ganze Gesicht.
Das Schrecklichste aber war der unnatürliche Winkel, in dem
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