Die Toten im Schnee: Kriminalroman (German Edition)
unsicheres Ja von sich gegeben.
Mehr gab es nicht zu sagen. Es waren gnadenlose Zeiten, in denen eine Mutter sich zwischen ihren Kindern entscheiden musste. Deutsche und Partisanen hatten sich getrennt, ebenso wie sich diejenigen, die ins Leben gingen, von denjenigen trennten, die in den Tod gingen. Serena hatte ununterbrochen Renatinos Haar gestreichelt, die hoffnungsvollen Blicke des Kindes belogen.
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D ie Linea Gotica , später auf den weniger hochtrabenden Namen Grüne Linie 2 getauft, wurde im Februar von den alliierten Truppen durchbrochen.
Am 22. April 1945 war Case Rosse vollständig befreit. Die Brasilianer des FEB , des Expeditionskorps, kamen sowie die Amerikaner der zehnten Bergdivision.
Mit der gelassenen Ergebenheit derjenigen, die wissen, dass sie für immer mit der Last der Erinnerung leben müssen, ließen sich die Männer und Frauen des Dorfes nicht von dunklen Gesichtern einschüchtern, obwohl sie so etwas noch nie gesehen hatten, und lernten »Sänk ju« zu sagen, wenn sie ein Stück Schokolade bekamen oder ein Päckchen Zigaretten.
Das erste Grab derer, an die man sich später als die Märtyrer vom Prà grand erinnern würde, war die Erde, die bereits mit ihrem Blut getränkt war. Auf der allgemeinen Gefühlswelle nach dem Krieg wurden die Leichen exhumiert und unter dem Hauptplatz des Dorfes begraben, der den Namen »Platz der Märtyrer« bekam. Als Grabstein wurde von einem Bologneser Künstler eine Bronze gegossen: ein Engel, der den Körper eines toten Mannes aufhob, um ihn in den Himmel zu tragen.
Als sie errichtet wurde, war der Henker des Apennins längst geflohen. Der Prà grand wurde wieder in Monte della Libertà, Berg der Freiheit, umgetauft.
6. JANUAR 1995, FREITAG
DIE GERECHTIGKEIT DER MÄRTYRER
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P rofessor Aldrovandi fischt mit dem Teelöffel die letzten Tropfen vom Boden der Tasse, dann blickt er Roberto forschend durch die gefärbten Brillengläser an. »Haben Sie die, wenn auch nur evokative, Bedeutung des Stücks Holz verstanden, das Sie mir vorhin gezeigt haben?«
Roberto antwortet nicht. Das Denkmal in der Mitte der Piazza ist ein Grab, wiederholt er ständig innerlich. Im Grunde seiner Seele pulsiert ein dumpfer Groll. Ihm kommt der Gedanke, dass das Ende der Nachkommen des Henkers ein Akt der Gerechtigkeit war. Dann erscheint das zerstörte Gesicht der kleinen Benedetta vor seinen Augen, und es bleibt nur noch Scham übrig.
Alices Augen glänzen. Zwei Tränen rollen ihr über die Wangen. »Folglich«, versucht sie anzuheben, muss sich aber unterbrechen, um zu schlucken. Dieses Mal ist es Roberto, der ihr die Hand drückt. Sie reißt sich zusammen und fängt noch einmal an: »Folglich wurden von der Familie Ferri ermordet …«
Der Professor zieht aus seiner Mappe ein großes Foto der Gedenktafel. »Also, meine empfindsame Signorina, ihre Namen.« Er beginnt eine lange Aufzählung, während er mit dem Finger auf dem Bild entlangfährt. »Francesco Ferri, oder besser gesagt Comandante Sfregio, Serena, seine Frau, sein Söhnchen Renato, genannt Renatino. Sfregios Bruder Efrem, die Schwestern Anna und Pia. Maria und Olga, die Ehefrauen der in Russland vermissten Brüder. Dann Veronica. Sfregios Tante und Onkel: Gemma und Gualtiero, Schwester und Bruder von Veronica. Bianca, Gualtieros Frau und ihre einzige Tochter, Romana. Alles in allem dreizehn Mitglieder der Familie, neun Frauen und vier Männer, darunter ein Kind. Es war nicht selten, dass im Krieg die Verwandten der Partisanen bestraft wurden; dieser Gewaltausbruch war allerdings besonders heftig.«
Roberto zwingt sich, weiterzudenken. Die Wirkung der Schmerzmittel lässt allmählich nach, und er muss sich beeilen. »Sind Arrigo und Livio aus Russland zurückgekehrt?«
Aldrovandi schüttelt den Kopf. Er holt ein anderes Blatt Papier hervor. »Das ist das Verzeichnis der Vermissten aus der ARMIR , eine Abkürzung, die für ›Armata Italiana in Russia‹ steht. Sie als ›vermisst‹ zu bezeichnen ist freilich ein scheinheiliger Euphemismus: Es sind die Toten, deren Leichen in der eisigen Hölle der Steppe nie gefunden wurden.« Zwei Namen sind hervorgehoben: Arrigo Ferri und Livio Ferri. Ihre Spuren haben sich am selben Tag am selben Ort verloren: Arbusowka, 22. Dezember 1942. »Zwei der fünfundzwanzigtausend, die gefallen sind. Mit sommerlicher Ausrüstung und bei Temperaturen von fünfzig Grad minus versuchten sie, das rettende Ziel zu erreichen, das für sie Tschertkowo hieß. Wenige haben es
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