Die toten Mädchen von Villette
plötzlich vor ihnen, viel zu nahe, so drohend nahe, daß sie den Dunst von Schweiß und testosterongeladener Aggressivität riechen konnte. Sie fragte sich, woher sie gekommen waren. Sie waren ganz plötzlich aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Sie mußten ihr und Jean-Pierre vom Markt aus gefolgt sein.
– Ach, hört doch auf, sagte Jean-Pierre, die Bullen hier in der Stadt sind schlau genug, um zu kapieren, daß ich damit nichts zu tun habe. Schade, daß man das nicht von allen in diesem Kaff sagen kann.
Er lehnte sich demonstrativ zurück, hob seinenBierseidel an den Mund und streckte die langen Beine vor sich aus.
Julie trank schnell ihr Kirschbier aus und legte ein paar Münzen auf den Tisch.
– Komm jetzt, wir gehen, sagte sie leise. Jean-Pierre schüttelte den Kopf, genau wie sie erwartet hatte. Sie hatte jetzt Angst. Der Kreis haßerfüllter Gesichter um sie war geschlossen und unerbittlich. Es waren vielleicht zehn, die meisten im Teenageralter, aber männliche Halbwüchsige in der Gruppe konnten mit das Gefährlichste sein, was es gab, das hatte Julie bei der Arbeit viele Male gesehen. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß mehrere von ihnen Bretter in den Händen hielten. Die Idioten mußten auf dem Markt eine Packkiste zerschlagen haben, um die Einzelteile als Waffen zu benutzen.
Einer der Jungen spuckte kräftig aus und traf Jean-Pierres Stiefel. Er war rothaarig, mit rötlicher Haut, und am Haaransatz brannte eine Reihe Sommersprossen knallrot als Warnsignale.
– Ich kannte Sabrina, sagte er, sie war mein Mädel.
Jean-Pierre grinste.
– Ja, klar, sagte er, du bist Petit, stimmt’s, der »Kleine«? Ja, Sabrina hat am Freitag von dir geredet, sie hat gesagt, daß du dem Namen alle Ehre machst, und daß sie wünschte, daß du aufhörst, ihr nachzulaufen.
Der rothaarige Petit stürzte mit einem unartikulierten Gebrüll der Wut vorwärts, während Jean-Pierre gleichzeitig den Tisch vor sich umtrat und sich an die Wand drückte, den Bierseidel in der Hand. Er zerschlug den Seidel an der Wand und hielt das kaputte Glas als Waffe hoch.
– Lauf, Julie! sagte er.
Julie quetschte sich durch die Tür ins Café, gerade alssich der Kreis der Angreifer um Jean-Pierre zu schließen begann. Sie riß das Telefon an sich, das auf der Theke stand, und wählte die Notrufnummer, während sie gleichzeitig mit klopfendem Herzen nach draußen schaute. Über der schmuddeligen Gardine, die das halbe Fenster bedeckte, sah sie, wie mehrere Bretter gehoben wurden. Sie schrie laut auf.
Christian de Jonge tupfte mit einem Stück Brot diskret den Rest der Gorgonzolasauce auf seinem Teller auf und betrachtete nachdenklich die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen. Francesco Marinelli und Nigel Richards hatten es anscheinend für selbstverständlich gehalten, daß sie zusammen zu Mittag essen würden, und hatten ihn in ein kleines italienisches Restaurant in der Avenue d’Auderghem mitgeschleppt, ein friedliches Lokal eine halbe Treppe hinauf, das früher einmal eine Wohnung gewesen sein mußte.
Martine Poirot hatte ihn am Montagabend zu Hause angerufen und von Richards und Marinelli erzählt, den Journalisten, die zusammen mit der ermordeten Sabrina im Bild eingefangen worden waren und beide in Villette gewesen waren, als im April 1982 Christelle Rolland ermordet wurde. Sie waren sich völlig einig gewesen, daß Christian nach Brüssel fahren und sie befragen sollte. Noch ging es darum, zurückhaltend zu sein und sie nicht aufzuschrecken, und ein Besuch von Martine würde viel zu offiziell wirken. Gleichzeitig konnte nur von einem Kommissar die diplomatische Finesse erwartet werden, die nötig war, um sich nicht mit der internationalen Presse anzulegen. Willy Bourgeois hatte sich am Morgen enthusiastisch angeboten, den Auftrag zu übernehmen, aber Christian hatte ihn überzeugt, daß es besser war, wenn er versuchte, seinen Kontakt in Bonn zu erreichen.
Christian fragte sich, ob die beiden Journalisten davon ausgingen, daß er den Lunch bezahlte. Das mußte er in diesem Fall wohl tun. Sein Auftrag war ja, sie mit Samthandschuhen anzufassen und sie nicht mit seinen Fragen zu beunruhigen.
Nicht daß Marinelli und Richards nervös wirkten. Mit einem echten belgischen Kriminalpolizisten zu reden schien sie eher auf eine jungenhafte Art zu begeistern. Auf dem kurzen Spaziergang zum Restaurant hatten sie Christian nach seiner Arbeit ausgefragt und waren sehr aufmerksam geworden, als sie sich darüber klar wurden, daß
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