Die toten Mädchen von Villette
sie ging Arm in Arm mit zwei anderen Mädchen, und erst später habe ich begriffen, daß das die beiden anderen Mädchen waren, die ermordet wurden. Sie hatte immer noch das Kostüm an, und so nahm ich an, daß sie unterwegs war, um sich umzuziehen, aber ich sah, daß sie mehrere Male stehenblieb, um mit Leuten zu reden.
– »Leuten«? sagte Christian.
– Ja, keine Journalisten, aber Leute, die sie kannte, nehme ich an, und einige andere, aber keiner, der mir besonders aufgefallen ist. Doch, da war ein amerikanisches Touristenpaar, das hielt sie an und bat darum, ein Bild machen zu dürfen, man konnte ihren meckernden texanischen Dialekt über den ganzen Platz hören, sagte Richards.
– Und dann, sagte Christian, sind Sie zusammen zum Hotel gegangen?
– Nein, sagte Marinelli, ich rauche Zigarillos, und sie hatten die Marke, die ich immer kaufe, in dem Tabakladen nicht, also mußte ich mich auf die Jagd nach einem besser sortierten Tabakhändler begeben. Nigel ist zurück ins Hotel gegangen, glaube ich, oder nicht?
Richards nickte zustimmend.
– Und dann, sagte Christian, während des Nachmittags und Abends, haben Sie Sabrina Deleuze zufällig noch mal gesehen, oder haben Sie andere Beobachtungen gemacht?
Francesco Marinelli lachte.
– Bester Kommissar, den Nachmittag verbrachten wir mit einem Drink in unseren klimatisierten Hotelzimmern, dann kamen die Einladung zum Essen im Aux Armes de Verney und ein Parkettplatz zum Konzert auf einer entzückenden Dachterrasse. Das Essen war auch phantastisch, da hast du was verpaßt, Nigel!
– Sie waren also nicht beim Abendessen, sagte Christian zu Nigel Richards.
Der Engländer sah irritiert aus.
– Nein, sagte er, ich hatte eine Deadline, einen Artikel, den ich abgeben mußte, eine Analyse der neuen Voraussetzungen der europäischen Zusammenarbeit mit dem Maastricht-Vertrag und der Erweiterung. Ich hätte ihn schreiben müssen, bevor ich nach Villette fuhr, aber Sie wissen, wie das ist, es kam eine Menge dazwischen, und dann sitzt man mitten in der Nacht da und schreibt.
– Und dann wurde der Artikel doch verschoben, sagte Marinelli munter, che peccato , caro Nigel, daß du ganz unnötigerweise um dieses außerordentliche Abendessen kommen mußtest!
Nigel Richards sah noch irritierter aus.
– Wurde Ihr Artikel nicht genommen? sagte Christian.
– Doch, natürlich, sagte der Engländer, aber die Planung wurde geändert, er ist heute drin statt in der Sonntagsausgabe.
Die Serviererin kam und räumte die Teller ab, eine willkommene Unterbrechung für Christian, der unter Hochspannung dasaß und sich fragte, wie er weiter verfahren sollte. Nigel Richards hatte sich also am Freitagabend von der Journalistengruppe ferngehalten, unter dem Vorwand, einen Artikel schreiben zu müssen, der tatsächlich erst in der Montagsausgabe publiziert wurde. Ein ziemlich schwaches Alibi – hatte er sich in Wirklichkeit am Fluß hinter Givray mit Sabrina Deleuze verabredet? Er hatte die Gelegenheit gehabt, als er auf dem Platz stand und auf den zigarillokaufenden Marinelli wartete. Und Nadia Bertrand hatte im Laufe des Abends zu einem anderen Mädchen gesagt, daß Sabrina von einem »alten Mann« zum Abendesseneingeladen worden sei, das hatte Annick Dardenne Christian erzählt, bevor er nach Brüssel gefahren war.
Er betrachtete Nigel Richards faltiges Gesicht und die sich lichtenden Haare. Unzweifelhaft ein »alter Mann« in den Augen der vierzehnjährigen Nadia. Er mußte vorsichtig verfahren, damit Richards nicht in sein Heimatland abhaute, bevor sie genug in der Hand hatten, um ihn festzunehmen. Wenn er es denn gewesen war.
Marinelli hatte mit den übrigen Journalisten zu Abend gegessen, aber wie sicher war dieses Alibi? Es hing davon ab, wie lange das Essen gedauert hatte. Die Mädchen waren ungefähr eine halbe Stunde vor Mitternacht gestorben. Es konnte theoretisch möglich sein, erst am Essen teilzunehmen und dann die Morde zu begehen, dachte Christian. Er nahm sich vor, vor der nächsten Befragung in Villette anzurufen und jemanden zu bitten, mit dem Personal des Aux Armes de Verney zu sprechen.
– Soll ich die Dessertkarte holen? fragte die Serviererin.
– Nur Kaffee für mich, einen doppelten Espresso bitte, sagte Christian hastig. Die beiden Journalisten bestellten auch Kaffee, und Marinelli zog eine Schachtel Ritmeester heraus.
– Oder soll ich noch etwas warten? sagte er mit einem Blick zu Nigel Richards.
– Es ist nett von dir, wenn du wartest,
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