Die toten Mädchen von Villette
an das Regelwerk zu helfen. Ich kann dir sagen, das wird eine Goldgrube!
– Und du meinst, das ist ein Job für dich? fragte Sophie.
– Klar, sagte Philippe, ich kenne das Regelwerk, ich habe viele der Binnenmarktsdirektiven während der fröhlichen achtziger Jahre, als ich noch ein vielversprechender junger Jurist bei der Kommission war, mitgeschrieben.
– Und wie kommt Tony da rein? fragte sie neugierig.
– Ich, sagte Tony, komme mit Startkapital rein, damit Philippe mit der Arbeit in Gang kommen kann. Ich bin mir sicher, daß es sich lohnen wird, Philippe ist der cleverste Jurist, der mir je begegnet ist.
– Bist du so reich, Tony? sagte Sophie und lächelte ihn an.
Er zuckte die Achseln. Philippe schnitt eine Grimasse:
– Ja, die Blinde Gerechtigkeit und die beiden anderen Restaurants gehen gut, aber das ist ein etwas sensibles Thema, beste Madame Lind. Es gibt nämlich böswillige Menschen, die zu wissen glauben, woher Tonys Geld ursprünglich gekommen ist, ich glaube, nicht einmal meine liebe Schwester wird komplett glücklich sein über dieses Projekt, obwohl sie und Tony so gute Freunde sind.
– Martine, ja, sagte Sophie, weißt du, ich finde beinah, sie ist in den letzten Jahren ein bißchen pedantisch geworden.
Sie wartete interessiert, um zu sehen, ob Philippe zur Verteidigung seiner Schwester ausholen würde. Sie hatte die Mischung aus Rivalität und Liebe, die die Beziehung zwischen den Geschwistern Poirot prägte, so anders als das entspannte Verhältnis zwischen Sophie und ihren dreiGeschwistern, nie richtig verstanden. Aber sie waren in einer Künstlerfamilie mit schwedischstämmiger Mutter aufgewachsen, die die Konventionen leichtnahm, während Philippe und Martine in einem katholischen und bürgerlichen Milieu mit dunklen Familiengeheimnissen im Gepäck geformt worden waren.
Doch, konstatierte sie amüsiert, Philippe war sofort bereit, seine kleine Schwester zu verteidigen.
– Das ist die Rolle, sagte er, Untersuchungsrichter müssen sich davor hüten aufzufallen. Besonders wenn sie Frauen sind, müssen sie unbescholten und untadelig sein. Vielleicht ausgleichende Gerechtigkeit, zu der Zeit, als ich eine Stütze der Gesellschaft mit Frau und Einfamilienhaus und Karriere war, hing Martine in Klubs herum, war ständig unterwegs und hatte ein dubioses Verhältnis mit einem verheirateten Mann.
– Dieser Politiker, sagte Sophie.
– Dieser Politiker, stimmte Philippe ein. Ja, Sophie, ich gebe zu, du hast recht, ich mache mir Sorgen, und ich weiß nicht, was ich tun soll oder ob ich überhaupt etwas tun soll.
Sophie legte die Hände zusammen wie um eine Kristallkugel.
– Erzähl es Tante Sophie, sagte sie aufmunternd. Schauspieler aus ganz Europa haben sich bei mir ausgeweint, und in der Mittsommernacht gebe ich gute Ratschläge völlig gratis.
Um Rat zu bitten war wohl nicht Philippes starke Seite, dachte sie. Tony sah unergründlich aus.
Philippe zögerte eine Weile, begann aber schließlich zu sprechen.
– Ich weiß nicht, ob du weißt, daß meine und Martines Mutter während des Krieges kurze Zeit in Ravensbrück gewesen ist? sagte er.
Sophie nickte. Doch, sie hatte es von Thomas gehört.
– Sie wurde zusammen mit einem Mädchen namens Simone Janssens festgenommen und dorthin gebracht, sagte Philippe, und Maman kam zurück, aber Simone starb im Lager. Simone hatte einen jüngeren Bruder, der Eric hieß, ein Rechtsanwalt in Brüssel, mit dem ich oberflächlich bekannt war. Wir hatten, Philippe lächelte schief, die gleiche Veranlagung und verkehrten zum Teil in denselben Kreisen. Eines Tages vor ein paar Jahren, das war nach meiner Scheidung, aber bevor ich mein Leben total ruiniert hatte, kam er zu mir und sagte, er habe gehört, daß ich der Sohn von Renée Collignon sei, und erzählte, daß Maman und seine ältere Schwester enge Freundinnen gewesen seien. Das war das erste Mal, daß ich von Simone, die nie zurückkam, gehört habe. Maman sprach nie darüber, was sie erlebt hatte. Niemals.
Sophie bemerkte, daß Philippe jetzt auf die gleiche Weise die Serviette zusammenrollte und mit dem Fuß trommelte wie während des Essens, aber diese Serviette war aus Papier und ging kaputt. Banal, aber ausdrucksvoll, dachte sie. Sie konnte das irgendwann verwenden. Philippe trank einen Schluck vom Wein und sprach weiter.
– Eric Janssens lud mich danach zu sich ein. Er hatte eine große Wohnung in der Nähe des Justizpalastes in Brüssel, proppenvoll mit Kunst und
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